Startseite
Frisch in Arbeit
Die taz-Kolumne
Blätterwald
Weltweit
Fundstück
Buch & Beifall
Post

Mehr unter Frisch in Arbeit.
Rezensionen unter Buch & Beifall - Gut gefunden
Verbiers im Schnee
Funfunfun auf Spaßgerät


Wer den Schnee liebt, aber Skier hasst und sich auf Snowboards nicht wagt, hatte es lange schwer. Schneemannbauen, Schneeballschlachten, Schlittenfahren hießen die Alternativen jenseits der Bretter. Was die Erweiterung dieses Angebots anging, hat der menschliche Erfindungsgeist sich lange nicht gerade hervorgetan.
Doch seit vier, fünf Jahren ist dies anders. Die wintersportliche Evolution ist in die Hufe gekommen und hat eine ganze Reihe neuer Gerätschaften hervorgebracht, die alle dem einen Ziel verpflichtet sind, bei dem es im Wintersport immer schon ging: Ihre Benutzer möglichst rasant einen Hang hinunterzubefördern und dabei das Risiko von Hals- und Beinbrüchen möglichst hoch zu schrauben.

Verbier etwa, das 2000-Seelen-Dorf im französisch-sprachigen Wallis, das auf 1500 Meter Höhe an einem sanften Südwesthang klebt, verfügt nicht nur über 410 Kilometer Skipiste und ein buntes Aprés-Ski-Leben, sondern auch über ein reichhaltiges, sagen wir "En-place-du-ski"-Instrumentarium. Verbier ist so etwas wie ein Zentrum des sogenannten "Fun-Sports" geworden. Und längst scheint es an der Zeit, dass dieses Angebot von kompetenter Seite einem ernsthaften und umfassenden Test unterzogen wird.

Verbier also. Breite Chalets aus nachgedunkeltem oder noch hellem Holz ducken sich behäbig unter ihre Schneehauben, Kiefern und Tannen sind reichlich dazwischen gestreut. Rund um den kleinen Place Central, auf dem abends Neon leuchtet, als müsse man dem Times Square Konkurrenz machen, konzentrieren sich die meisten der 45 Restaurants, 23 Hotels und 15 Bars und Diskotheken. Nur wenige hundert Meter höher beginnt schon freies Feld, Schnee und Fels. Verbier ist einer jener Schweizer Wintersportorte, die sorgfältig ihren "Wir-sind-immer-noch-ein-Alpendorf"-Ruf pflegen. Und in der Tat: Das Geld fühlt sich wohl in Verbier. Aber es kommt nicht protzig daher. Mal ein Pelz, mal eine silbergraue Limousine - aber dazwischen jede Menge ausgelassener junger Engländer mit Snowboards. Verbier bietet auch Nichtmillionären ein Plätzchen - und sei es die zum Gästezimmer umgebaute Besenkammer des einen oder anderen Hotels. Ein Tourist passt immer noch.

Gilles Jeannin scheint der richtige zu sein, um den Tester in die Gepflogenheiten des sogenannten Fun-Sports einzuweihen. Der 32-jährige Bergführer, der ein wenig an Otto, den Ostfriesen erinnert, strahlt eine geradezu ansteckende Fröhlichkeit aus, die nur durch den häufigen Gebrauch einschlägiger Fun-Geräte entstanden sein kann.

Zum Warmwerden, auch miteinander, schlägt er eine Schneeschuhwanderung vor. Die 40 Zentimeter langen, grünen, durchbrochenen Plastikbretter hat er gleich mitgebracht. Anders als die alten indianischen Schneeschuhe werden sie nur an der Spitze des Fußes fixiert. Der Absatz kann sich heben, die Plastikteller müssen nicht bei jedem Schritt angehoben werden, sondern lassen sich wie kleine Pflüge durch den Schnee ziehen. Es geht ganz leicht - und trotzdem sinkt man auch im Tiefschnee nicht mehr als 15 Zentimeter ein.

Schnell noch einen Lawinenpiepser umgehängt - Sicherheit geht auch in ungefährdetem Gebiet vor - und mit einem knarrenden "Tap Tap" stapfen zwei bedächtig bergan, querfeldein in das Gebiet La Marléne. Die Hänge ringsum sind mit Schlangenlinien verziert, die weiß bepuderten Walliser Alpen und das zackige Montblac-Massivs betrachten wohlgefällig ihre beiden bald schwitzenden Besucher. Aus grauer Watte steigen die die Gondeln der Seilbahn hoch: Unten im Nebel liegt Verbiers mit seinen 30 000 Gäste- und Zweitwohnungsbesitzerbetten - und doch dauert es an diesem Samstagvormittag über eine Stunde, ehe der erste Mensch auftaucht. Ein Snowboarder zischt in unnachahmlicher Eleganz den Berg hinunter.

Zwei Stunden ruhiges Vor-sich-hin-stapfen, und als bei der Rückkehr ins Tal vier fröhliche Jungs vor einer Hütte die Wanderer spontan zu einem Schluck Fendant aus der Flasche einladen, hat dieses Dorf Verbier schon viel gewonnen: Testersympathie.
Was aber das Schneeschuhwandern angeht, so erweist es sich als sehr beschauliches Vergnügen. Das Richtige für gesetztere Naturen, die wieder einmal ordentlich in sich gehen müssen. Die Aufregung, der große Kick, der Thrill - sie müssen woanders zu finden sein.

"Mal sehen", sagt Gille, "heute abend im Fun-Park". Der Fun-Park ist ein sanfter Hügel, der tagsüber als Lehrpiste dient und abends unter Flutlicht zum Gaudibuckel mutiert. Doch erstmal wartet Thierry Gasser, der Betreiber, mit einer Enttäuschung auf: Die "Tubes" sind nicht aufgeblasen. Für die großen Reifen muss eine extra Bobbahn aufgeschoben werden, mit überhöhten Kurven, über die sie nicht ohne weiteres hinausschießen können. Und dafür mangelt es an Schnee.

"Merde!", knurrt der Tester in schneller Anpasung an das lokale Idiom. Aber nichts ist vollständig. Schließlich hat Verbier auch keinen Zorb, jenen mehrere Meter großen Plastikball, in dessen Inneren eine zweite Plastikkugel sich dreht, in welcher der Wahnsinnige wiederum, der sich darauf einlässt, fest angeschnallt den Hang hinunterdonnert. Auf "Le Pendule", das Schwingen an einem 60 Meter langen Seil von einer Brücke muss der Besucher mangels Brücke genauso verzichten wie auf die Eiskletterwand. Zumindest derzeit: Sie ist mangels Kälte noch nicht gefroren.

Aber es stehen immer noch genügend skurrile Geräte herum, erstaunliche Kreationen wie der Snow-Cross etwa: Das unmotorisierte Zweirad mit den dicken Reifen nimmt auf dem sanften Hang enormes Tempo auf. Die Vorderbremse ist dazu da, kopfüber in den Schnee zu segeln. Die hintere sorgt für das seitliche Wegrutschen der Maschine. Den Snow-Cross, befindet der Tester nach kurzem Einsatz, wird er getrost dem Harley-Fanclub aus Großbugwedel überlassen, so es diesen je nach Verbier verschlagen sollte.

Auch der Snow-Scoot, zwei hintereinander gehängte Snowboards, deren vorderes, kürzeres der Fahrer mittel eines Lenkers steuert, während er auf dem hinteren zu stehen versucht, erweist sich als störrisches Gefährt. Er kann seine Verwandtschaft mit den verhassten Brettern nicht leugnen, und nachdem der Tester dreimal den Schnee geküsst hat, beschließt er, dass auch der Snow-Scoot nie zu seinen erklärten Lieblingen zählen wird.

Wie anders dann doch der Snow-Flash! Der Snow-Flash ist dem Grindelwalder Velogemel nachgebaut, ein 30 Zentimeter hohes Dreirad quasi, dem statt der Räder kurze Skier untermontiert wurden. Gesteuert wird mit Lenker, gebremst mit den Füßen oder durch Querstellen des Führungsskies, und schon nach den ersten Metern wird klar: Das ist er, der Top-Favorit für morgen.

Der Lift bringt die beiden Männer samt Gerät am andern Tag zum Härtetest zur Bergstation Les Attelas. Auf zwei Skipisten ist die Benutzung der Fun-Sport-Geräte erlaubt, allerdings nur in Begleitung eines Führers.
Sind sie denn nun mitleidig, amüsiert oder missbilligend, die Blicke der Skifahrer auf die zwei einsamen Snow-Flash-Fahrer? Neidisch, befindet Gilles selbstbewusst. Und dann geht es schon ab. Schnee stiebt auf, Fahrtwind beisst ins Gesicht, Scharren und Schaben und Schussfahrt, die an das Steuern eines Formel-1-Boliden erinnert: Der Lenker schlägt aus und will gebändigt sein, das Gestell poltert unterm Hintern und schmiert in den Kurven weg, der Schneeblitz bockt und bügelt und brettert nach unten.
"Und - wia isch?" brüllt Gille. "Tipptopp" brüllt der Tester in makellosem Schwyzerdütsch zurück. Fun-Faktor auf der erst noch zu schaffenden Skala? Ganz schön hoch.

"Was steht noch aus?", fragt der Tester bei Hobelkäse und Hirschwurst auf der Terasse von "Chez Dany", während er an einem Glas rassigen Johannisberg nippt und dem Mysterium der Skifahrerei nachsinnt: Soviele verschwitzte, durchfrorene, ausgehungerte Menschenkinder, die aller Logik zum Trotz dennoch glücklich strahlen. "Ach, wir sehen uns ein wenig um", antwortet Gilles. Und hält es nicht für nötig, schon jetzt darauf hinzuweisen, dass dies aus einer Position von ein-, zwei-, dreihundert Metern über der Erde vonstatten gehen soll.

Die Bergstation Les Attelas liegt in 2733 Meter Höhe. In Les Attelas wartet schon ein braungebrannter Anfangsdreißiger, Fred mit Namen, Gleitschirmpilot von Beruf. Einen Tandemflug zu absolvieren hält Gilles für unerlässlich. Einfach der Vollständigkeit halber.

Dem Tester wird eine Art Sitzsack umgeknüpft und ein paar kurze Skier untergeschnallt, dünne Schnüre im Schnee führen zu einer ausgebreiteten Plastikplane. Und ehe er sich's versieht, steht er, den Pilot dicht im Rücken, am Rande des Abgrunds. Vier Skispitzen ragen ins Nichts, eine Stimme sagt "Voilá!" und es passiert, was ihm in diesem Leben nimmer hätte widerfahren sollen: Er stürzt sich senkrecht den Hang hinunter in der gewagten Annahme, der Mann hinter ihm wisse, was er da tue - zumal er zumindest bisher keinerlei suizidale Tendenzen hatte erkennen lassen. Sechs, sieben Meter Schussfahrt, und tatsächlich: Ehe das Unternehmen in dem üblichen Inferno aus stiebendem Schnee, reißenden Jacken und splitternden Brettern endet, setzt ein sanfter Zug von hinten ein, die Schnüre straffen sich - Skier nebst Männern heben sich vom Boden.

"Setz dich ganz nach hinten!" sagt Fred. Skifahrer winken und werden kleiner, der bananenförmige weiße Schirm braust in der Luft und rauscht hinaus ins Freie, Weite. Und da kommen sie schon, die Aufwinde. Die Thermik greift, in Bögen schraubt sich der Segler mit zwei Metern pro Sekunde nach oben.

"Wie hoch sind wir? Wie fest ist dieses zarte Gspinst? Und wieviele Flüge nebst Unfällen hat Fred vorzuweisen?" - ein paar Fragen drängen sich jetzt doch sehr penetrant auf. "100 Meter. Sehr fest. 2000 Flüge. Kein Unfall." Die Antworten helfen ein wenig - vor allem, wenn ein plötzlicher Absacker das Zwerchfell kitzelt. Aber auch nicht zu sehr.

Doch nun gleitet der Schirm in sanften Schwüngen ins Tal. Da unten breitet Verbier sich aus, das Schweizer Holzspielzeugdorf. "Mach ein paar Fotos", drängt Fred. Es geht. Und sogar steuern darf der Tester: Links ziehen, linke Wende, rechts dito. Allmählich schlägt die Aufregung in Freude um.

Nach 20 Minuten, die schneller als fünf vergangen sind, werden die Häuser größer. Der Pilot kündigt eine baldige Landung an. Ob er denn, zum Abschluss, weiterhin sanft der Erde entgegenschweben, oder lieber "ein paar kleine Sensationen" einbauen solle? Der Tester, leichtsinnig geworden ob des bruchlosen Verlaufs der bisherigen Versuche, vergisst sich. "Voila!" ruft Fred. "Auf zum 360er!" Und es muss in diesem Augenblick, kein Zweifel, ein diabolisches Grinsen seine Mundwinkel umspielt haben. Denn plötzlich öffnet sich der Abgrund. Der Schirm kippt weg, das Tal, bisher so vernünftig zu Füßen, entschwindet dem Blick, senkrecht stürzt die Kette der Alpen, aber nur für Sekundenbruchteile, denn nunmehr rast alles kreuz und quer, der Schirm samt menschlichem Anhang fegt in einem rasanten Wirbel rundum, das Tal löst sich auf in einem Wirbel aus pfeifender Luft, vorüberfliegenden Bildern und der plötzlichen Erkenntis, wie hoch oben das Ganze doch stattfindet. Von Gleiten keine Rede mehr. Der Brust des Testers entringt sich ein Laut, den unvoreingenommene Beobachter leichthin als Angstschrei erkennen würden. Luftikus Fred deutet ihn als Ausdruck der Begeisterung. "Spannend?" brüllt er. Interpretiert die vage Kopfbewegung des Testers als umfassende Zustimmung., Und verpasst ihm eine weitere Runde Luftkarrussel. Sensationsgier braucht gelegentlich einen Dämpfer.

Dann geht alles sehr sanft zu Ende. Die Erde kommt näher, fünf, vier, zwei Meter, mit sanftem Knirschen setzen die Skier auf, und während der Tester noch die letzten Tropfen der Adrenalindusche durch sein Blut jagen fühlt, steht sein Urteil schon fest: Der Gleitschirm mag nicht neu sein. Aber er ist das Highligt im Spaßzirkus von Verbier. Der Überflieger. Fun-tastique, sozusagen.

- zurück -