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Halligalli am Horn
Im Nachtleben von Istanbul


Vielleicht muss man mit einem wie Erkan losziehen. Einem, der von hethitischen Löwen, römischem Zahnschnitt und ionischem Kapitellen zu schwärmen vermag - noch mehr aber von den phantastischen Zinssätzen, die türkische Banken für Übernacht-Gelder zahlen. Der fließend Verse des Mystikers Mevlana zitiert - und Häuser und Viertel doch vornehmlich mit dem unverklärten Blick des potentiellen Immobilienspekulanten mustert.
Mit einem, der in Deutschland studiert hat, an Gott glaubt, die Fundamentalisten verabscheut und in keiner anderen Stadt der Welt zuhause sein möchte als in Instanbul.
Wahrscheinlich muss es einer wie Erkan sein, der 30-jährige Fremdenführer mit dem lockigen Pferdeschwanz - will man die Bandbreite dieser Stadt auch nur in Ansätzen verstehen. Und die Spannungen, in denen sie steckt.

Natürlich führt Erkan den Besucher zunächst zu den wichtigen Plätzen des klassischen Istanbul: Der Kaskade grauer Kuppeln der Blauen Moschee; dem Nabel der Welt und den gigantischen Bögen und goldglitzernden Mosaiken der Hagia Sophi;, den 336 bunt ansgestrahlten, wasserumspielten Säulen der unterirdischen Zisterne direkt unter dem Herzen der Stadt.

Soviel klassisches Istanbul muss sein. Auch der Bedeckte Basar gehört dazu, mit seiner Goldstraße und der Freiluftbörse, jener Ecke, an der Männer in ihre Handys brüllen und über die ganze Türkei hinweg mit "Ganzen", sprich US-Dollar, oder D-Mark, den "Vierteln" handeln. Einst war der Basar eine Goldgrube: Vor dem Golfkrieg war ein guter Verkaufsraum durchaus eine halbe Million Dollar wert. Heute ist er schon für hunderttausend zu haben.

Auch der Besuch im Topkapi-Palast gehört dazu, bei den Schwertern der Kalifen und der goldbetressten roten Uniform des Sultan II Mahmud, die einst Michel Jackson mit seiner Bühnenkluft imitierte. Aber selbst auf diesen klassischen Routen entdeckt Erkan Neues: Vor wenigen Monaten erst hat die neue prähistorische Abteilung des Archäologischen Museums geöffnet. Und vor ein paar dicht mit Keilschirft vollgekritzelten Tonscherben hält er an. Eine Kostbarkeit! Der Friedensvertrag von Kadesh, der 1269 den allerersten Weltkrieg, den der Hethiter gegen die Ägypter beendete: "Er ist viel kleiner, als ich dachte" sagt Erkan fast andächtig.

Die Altstadt, das ist der Ort, der das Flair ausstahlt, das der Besucher gemeinhin mit dem Begriff Istanbul verbindet: Feuerzeugfüller und Lotterieverkäufer haben ihre Stände aufgebaut, fahrende Händler rösten Kokoreg, aufgewickelte Schafdärme, die kleingehackt in Brot gepackt werden und nach Kalamares oder Kutteln schmecken, es riecht nach frischen Sesamkringeln, Männer haben einander die Arme über die Schultern gelegt und schlürfen Tee aus Tulpengläsern. Wer gar nichts hat, verkauft Tempotaschentücher. Schließlich müssen zwölf Millionen Menschen überleben, oder 13, 14, 15 - je nach Schätzung.

Aber nun hält es Erkan nicht länger dort. Drüben, jenseits des Goldenen Horns, dieser Seezunge, die in den europäischen Teil der Stadt hineinleckt und ihn in zwei Hälften schneidet, liegt Beyoglu, das einst Pera und Galata hieß, die quirlige Neustadt, sein Revier. Jenseist der Galatabrücke beginnt eine andere Welt.
Der Tünel, 1871 als die zweite - und auch heute noch sicher kürzeste - Metro der Welt erbaut, führt hoch zur Fußgängerzone Istiklal. Pera, das war das Viertel, in dem die Europäer sich ansiedelten, hier standen ihre Botschaften und Kirchen. Und die grauen fleckigen Jugendstil- oder spätklassizistischen Fassaden künden noch vom Glanz des 19. Jahrhunderts. Seit 5, 6 Jahren ist Pera schwer im Kommen. Glas und Stahl drängt zwischen Ziergiebel und brüchige Säulen, das berühmte Cafe "Markiz", in dem jetzt nur Pappkameraden hinter blinden Scheiben sitzen, soll bald wieder eröffnet werden, und auch die Cité de Pera wird sicher bald renoviert oder abgerissen werden, dieses ockerfarbene Schlösschen mit seinen Girlanden und Rosetten, den eingeworfenen Fenstern in der Höhe und der gerundeten Veranda, auf der Unkraut wächst.
Ein dichter Strom Menschen drängt sich zwischen den Tischen der Lokale in der Blumenpassage durch, vorbei an den Ständen der Fischhändler, die Goldbrassen, Sardinen und mächtigen, hässlich bewarzten Schwarzmeer-Steinbutt mit Wasser besprengen. "Inai" hat die besten Profiteroles, "Noahs Depot" bietet Öko-Möhren, die "Deusche Bäckerei" Schwarzbrot. Im neuen "Schlotzskys Deli" gibt es Sandwichs für umgerechnet zehn Mark, in der "Asnavur"-Passage stapeln sich Schlabberpulis, Kunstpelzjacken und Hosen mit Schlag: Die Siebziger Jahre haben Istanbul nun doch erreicht.
Etwas essen? Der "5. Stock", im Innern eines unscheinbaren alten Hauses, ist nur Eingeweihten bekannt. Unter Glas im Boden räkelt sich ein Pin-Up-Girl, ein Strauß weißer Lilien und Levkojen und ein blauer Samtbaldachin schmücken den Raum, und zum Huhn "Marbella" mit Pflaumen und Oliven gibt es den Traumblick über den Bosporus und die nächtliche Stadt.

Rundum in den Straßen pulsiert das moderne Istanbul. "Über hundert Läden mit Live-Musik kenne ich", behauptet Erkan. Die Geheimtips heißen "Urban", "Milk" und "Godet" - oder schon auch wieder nicht mehr, im "Babylon" fetzt die "Istanbul Jazz Groove" Band Duke Ellington und Charlie Mingus hin, im "Hayal Kahvesi" geben die "Meermädchen" Eurythmics, und im "Mojo" räkelt sich der schlaksige Sänger von "Circus" lasziv um den Mikroständer. "Underground, Techno, Funk - jeder findet seinen Club", behauptet Erkan. "Es gibt Latino, und sogar türkischen Tango." Dann drängt er weiter, befallen von der Istanbuler Krankheit: Reinschauen, herumgrüßen, weiterziehen - man könnte schließlich Entscheidendes versäumen.

Kontraste, Gegensätze - Erkan liebt sie. Und also nimmt er den Besucher am nächsten Tag zu einer Fahrt in den Halic, das Goldene Horn, mit dem normalen Verkehrsschiff. Ein stinkendes Schlammloch, das war das Horn bis in die Achtziger Jahre. Doch dann wurden die Lederfabriken am Ufer abgerissen, an ihrer Stelle entstanden Grünanlagen, das Wasser erholte sich. Eine Fes-Fabrik wurde zum Vergnügungspark, und demnächst schließen auch noch die letzten Werften. Eyüp ist Endstation. Der Weg führt durch den Friedhof hoch zum Pierre-Lotti-Cafe. Hier, mit Blick übers Horn, hatte der französische Offizier und Dichter, Romane verfasst, sein Porträt, ein schnurrbärtiger Fes-Träger, hängt an der Wand.
Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, waren die Ufer des Horns noch bewaldet. Heute sind sie dicht an dicht überzogen von einer grauen Gemengelage aus Häusern, aus denen hin und wieder die Minarette der Moscheen wie Bleistifte ragen.

Eyüp erinnert an eine Vorstadt. Es ist sauber, einfach, strahlt wenig Glanz und keine Fröhlichkeit aus. Die Fundamentalisten haben hier das Sagen. Noch mehr aber im Stadtteil Fatih, der sich Richtung Altstadt anschließt. Auf Kiosken prangt der Schriftzug der fundamentalistischen Zeitung "akit", die die Zensur gerade noch durchgehen lässt, in Schaufenstern hängen Pilgerkleidung und Imamhüte, alle Frauen tragen Kopftücher und Anhängerinnen verschiedener Sekten sind unterwegs, schwarz verschleiert bis zu den Augen. Spricht Zurückhaltung und Würde aus den Blicken der Entgegenkommenden? Oder Verschlossenheit und Misstrauen. Es ist alles darin.
Als der Ruf des Muezzin in den engen Gassen wiederhallt, machen sich Männer mit Turbanen und Gebetsketten auf den Weg. Fast scheint es, als sei das Orange, Grün und Rot in den Auslagen der Gemüsehändler die einzigen Farben im grau-schwarzen Einerlei.
"Wir sind hinter euch", haben die Grauen Wölfe an eine Wand gesprüht. Erkan, der Mann mit dem Pferdeschwanz, fühlt sich sichtbar unwohl in diesem Teil seiner Heimat und schnürt noch schneller durch die Straßen als sonst.

Und dennoch: "Die Fundamentalisten tun etwas für die Leute", kommt er nicht umhin zuzugeben. Sie haben Parks verschönert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, kümmern sich um Sportanlagen für die Allgemeinheit und haben für ältere die Gratisnutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingeführt. Und auch die Korruption ist in ihren Reihen eindeutig geringer.

Es scheint, als müsse Erkan einen eindeutigen Kontrapunkt setzen. Am Taksim-Platz in der Neustadt liegt der Eingang zur Metro. Tief mussten sie gehen, vier lange Rolltreppen tief haben sie sie unter die Stadt gebohrt, erst vor knapp einem halben Jahr wurde die Linie Taksim-Levent eröffnet. Der silberne Zug mit den türkisen Plastiksitzen riecht noch nach Zahnarztpraxis.

In Levent ist das Geld zuhause. In Levent haben sich die Banken in nagelneuen Hochhauspalästen angesiedelt, stellen die Autohäuser feuerrote Ferraris und Maseratis aus, feiern im Winter die, die im Sommer in den Yachthäfen am Bosporus residieren: Im "Papermoon" etwa dem angesagtesten Lokal der Stadt. Die Türsteher der Nachtclubs stehen allesamt auf den Lohnlisten lokaler Mafien, Trinkgelder unter zehn Millionen Lira rufen bei ihnen wenig Begeisterung hervor, weitaus gängiger sind Einhundert-Dollar-Noten.

Und weiter, immer weiter drängt Erkan, immer neue Blicke suchen, neue Begegnungen mit seiner Stadt vermitteln, die zu den zwnazig größten der Welt zählt. Eine Ahnung von der geographischen Ausdehnung vermittelt dei Fahrt zu den Prinzeninseln im Marmara-Meer. Eineinhalb Stunden ist das Schiff unbterwegs - und am Ufer wandert die Stadt mit: Eine Ansammlung ockerfarbener Hochhäuser überzieht die Hügel, säumt die Bucht, bedeckt den Uferstreifen dicht an dicht, es hat kein Ende, und dahinter geht es abenfalls weiter. Und dies ist allein der europäische Teil.
Und Asien? Wo ist Asien? Wie ist Asien? "Der asiatische Teil umfasst in etwa die gleiche Fläche und hat ungefähr genausoviele Einwohner. Insgesamt aber ist er sauberer und hat die bessere Infrastruktur", sagt Erkan, der in Katiköy lebt. In der Tat: Die Bagdad-Straße führte einst als Gewürzstraße bis in die Hauptstadt des Irak. Heute steht sie für das moderne, elegante Istanbul. Neben "Beyman" und "Vakko", den teuren türkischen Labels, sind alle wichtigen internationalen Modemacher vertreten. Dezent geschminkte Frauen stöckeln in Jeans und Leder, die Jungs sind alle cool und schwarz gewandet. "Wer auf sich hält, trägt Barbiejacken und Buffaloo-Stiefel", sagt Erkan. "Bei den Männern geht nichts ohne Paul & Shark Jacke. Und groß im Kommen sind DKJN-Schuhe." Er selbst prüft noch schnell im Skigeschäft das Angebot an Snowboards - der Urlaub in den französischen Alpen steht an. Kopftücher? Kopftücher sind hier sehr selten. Stimmt schon: Asien ist weitaus europäischer als Europa.

Letzte Nacht in Istanbul. Von der Galatabrücke hängen die Angler ihre Leinen ins Wasser. In Plastikschüsseln neben ihnen plätschern fingerlange Barsche. Die Fahrbahn vibriert vom Verkehr.
Ringsu, Kilometer um Kilometer, erstreckt sich Istanbul, dieses fasziniernde Konglomerat aus Dorfplätzen, Kleinstadtgassen, Prachtmeilen. Drüben am anderen Ufer liegt die Altstadt. Über den funkelnden Lichtqadraten leuchten die Moscheen honigfarben wie exotische Schatzkästlein, ihre Minarette stechen bläulich in die Nacht. Und knapp darüber hat jemand einen dünnen Halbmond angeknipst. In echt. Wie passend.

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