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Regentage in Reykjavík

Es gibt Isländer, die steif und fest behaupten, in Reykjavík habe sich schon einmal die Sonne gezeigt. Zweiflern legen sie Fotos vor, auf denen etwa Menschen in T-shirts unter einem strahlend blauen Himmel auf dem öffentlichen Schachbrett an der Laekjargata Figuren verschieben. Nun ja.

Der Besucher sollte sich davon nicht beirren lassen. Der Patriotismus der Inselbewohner ist bekanntlich so grenzenlos wie ihr Sagenschatz unermesslich. Bleiben die Fotos? Auch dafür wird sich zu gegebener Zeit eine Erklärung finden.

Wer drei Tage durch Islands beschauliche Hauptstadt gewatet ist, ohne einen trockenen Flecken entdeckt zu haben, der nicht überdacht ist, weiß es besser: In Reykjavík herrscht gutes Wetter immer anderswo, war letzte Woche oder findet als Vorhersage statt. In Wirklichkeit regnet es immer in Reykjavík. Das ist so gewollt. Und es ist gut so.

Denn nur im Regen zeigt die Stadt ihr wirkliches Gesicht.
Die Hallgrímskirkja etwa, deren Turm die Dächer überragt wie ein schartig angespitzter Bleistift. Wer, von waagrechten Regenschauern gepeitscht, in ihr Inneres flüchtet, versteht plötzlich, was eine Kirche in diesen Breiten darstellt: Shelter from the storm, Schutz vor allen Unwettern des Lebens, ein Moment der Sicherheit und Wärme. Die weißen, überschlanken Betonpfeiler und die hohen gotischen Fenster verleihen dem Schiff eine spielerische Strenge, die nur aufgelockert wird durch den einfachen Altar, eine übermannsgroße Christusstatue und die Orgel, deren Pfeifen in den Raum ragen wie die Rohre einer Töne-Kanone. 1200 Gläubige finden hier Platz. 1937 hatte der Architekt Gudjón Samuélsson mit der Planung begonnen, erst 1986 wurde das Kirchenschiff eingeweiht. Eine Kirche wie ein Stück Island: blendend weiße Gletscher, lichte Weite, zerklüfteter Basalt. Fehlt nur der Regen. Der ist ausgeschlossen und hämmert wütend gegen die Fenster.

Ein Aufzug führt auf den 73 Meter hohen Turm. Der Rundblick enthüllt, was diese Stadt ist: Ein Hauptstädtchen, dessen Zentrum ohne weiteres zu Fuß zu erkunden ist, und doch Heimat für rund 140 000 Menschen, mehr als die Hälfte aller Isländer. Auf der nächsten Anhöhe im Süden glitzert "Die Perle", die Glaskuppel über den silbernen Warmwasserspeichern. Die Tanks, gespeist aus 70 Bohrlöchern, fassen 24 Millionen Liter und beheizen sämtliche Haushalte. Nach Osten beißt die Stadt mit ihren Hochhauszähnen sich immer weiter hinaus ins Lavageröll, während im Norden und Westen das Meer und die Hafenanlagen schon früh den Raum begrenzten. Direkt zu Füßen liegt der älteste Teil der gerade mal 213 Jahre zählenden Stadt: ein hübsches Gewimmel aus himmelblau, ziegelrot und tannengrün bedachten Ein- und Mehrfamilienhäusern, das allerdings keine Struktur erkennen läßt. Die Planer versuchen, der Stadt ein wenig Gesicht zu verpassen: Das neue Rathaus, ein in den Stadtsee Tjörnin vorgeschobener Bau aus Glas und Beton, bricht bewusst mit der Gemütlichkeit des alten Hafenviertels - mehr als nur ein bißchen Aufschminken der formlosen Dame Reykjavík.

"Here comes the rain again", lautet die heimliche Hymne der Hauptstadt. Ihre heimlichen Symbolfiguren stehen am Hafen: Zwei Kerle aus Bronze in der heimlichen Nationaltracht des Landes, Ölzeug, Stiefel und Südwester. Interessiert blicken sie aufs Meer hinaus: Da kommt sie schon, die nächste Regenbö! Vermutlich erinnert das Denkmal an die Zeit, als isländische Kinder plötzlich nicht mehr mit Schwimmhäuten geboren wurden und deshalb das Regenzeug erfunden werden musste. Neuderdings, was noch wenig bekannt ist, kommen junge Isländer mit einer Haut aus Gore-Tex zur Welt, was sie befähigt, trotz wassertriefender Pullover und nässequietschender Schuhe lachend duch die üppig bestückte Einkaufsstraße Laugarvegur zu bummeln.

Schräg hinter den Herrn am Hafen liegen bedeutende Gebäude: der Regierungssitz, die hellgraue Nationalbibliothek und der hochgeschlossene Bau des Nationaltheaters, der im Regen dunkel und abweisend schimmert. Direkt in ihrem Rücken erstreckt sich die Halle des Zollgebäudes: An Samstagen findet hier Flohmarkt statt. Zwischen Räucherlachs und getrocknetem Kabeljau kann der Besucher seinen Bedarf an Suppentellern, Sportschuhen und Wandgemälden decken und stößt an den Bücherständen schon mal auf Schätze wie "3 x Satan. Pater Leppich spricht".

Reykjavík, man kann es gar nicht oft genug wiederholen, ist ein einzigartiges Feuchtbiotop, das seinen Besuchern ganz unvergessliche Regenstunden beschert. Hamburg, an und für sich auch keine üble Regenstadt, kann da keinsfalls das Wasser reichen.
Wie erholsam es ist, im Glashaus des botanischen Gartens im Kaffee zu rühren, während das Wasser an die Scheiben klatscht, plätschert, gießt, von ihnen herunter wirbelt, rinnt und schießt, und keine gnadenlose Sonne den Raum in einen tropischen Dschungel verwandelt und einem den Schweiß aus allen Poren treibt!

Wie tröstlich, zwischen den sperrigen Draht- und den fülligen Steinskulpturen des Asmundur Sveinsson umherzuwandern, während es von oben trommelt und planscht, und einmal nicht beim Kunstgenuss von den Gedanken an lauschige Biergärten oder sonniges Strandleben abgelenkt zu werden. Sveinsson, der für sein weißes Museum Asmundarsafn die mediterrane Architektur plünderte und der Kuppel einer türkischen Moschee den Säulengang eines griechischen Tempels angliederte und zuguterletzt noch die Halbpyramiden eines ägyptischen Grabmals danebensetzte: Als der Bau 1950 fertig war, stand er ganz für sich auf einem Hügel und strahlte so etwas wie die Würde des Fremden aus. Heute, eingezwängt zwischen betulichen Einfamilienhäusern, wirkt er nur noch kurios.

Wie erhellend auch, bei Getröpfel, Geniesel und kräftigen Güssen durch Einar Jónssons Skulpturengarten zu schlendern, wo die Lichtgestalten jetzt noch heroisch-mystischer dem schwarzen Stein entsteigen, die Muskeln im nassen Glanz noch kraftvoller schwellen, die Jungfrauen noch hingebungsvoller schmachten und die Krieger ihre Kinnbacken noch herrischer recken: nordischer Kitsch findet erst im nordischen Niederschlag zu sich selbst.

Und wie gemeinschaftsfördernd: Wenn bei der "Volcano Show" 50, 60 Männer, Frauen und Kinder in dampfenden Klamotten zusammengepfercht in einem winzigen Kinosaal den alten Streifen des Dokumentarfilmers Villi Knudsen folgen und sie alle, während es draußen prasselt und schüttet, alle nur den einen Gedanken hegen: die Abfolge von Lavaströmen, Feuerfontänen und glühenden Brocken auf der kleinen Leinwand möge nie zu Ende gehen, jedenfalls nicht bevor der Regen aufhört.

Denn es kommt tatsächlich vor, dass die Hähne über der Stadt sich schließen. Dadurch sollte der Besucher sich freilich keinesfalls erschüttern lassen. Es handelt sich lediglich um eine Atempause. Der Himmel muss Luft holen, um die nächsten Kaskaden auf die Statue des Nationalhelden Jón Sigurdsson, das Nordische Haus und die heißen Quellen im Laugardalur vorzubereiten. Und sie kommen, noch ehe der Boden trocken ist.

Der Regen von Reykjavík vollbringt viel Gutes. Nicht zuletzt wäscht er gnädig die Tränen ab, die dem Besucher unwillkürlich über die Wangen rinnen, wenn er beim Studium einer Speisekarte das Sandwich für umgerechnet acht, das Glas Bier für zwölf und das Fischbüffet für 75 Mark entdeckt. Er trommelt ihn aber auch mürbe, klopft ihm die Birne weich, bis er sich ungeachtet aller inneren warnenden Stimmen im "Cafe Reykjavík" ein köstliches gratiniertes Fischstew genehmigt, mit den elegant gekleideten jungen Leuten, die ab 23 Uhr plötzlich die Straßen der Innenstadt überschwemmen, von Bar zu Bar zieht und staunend verfolgt, wie sie den Wochenlohn aus ihren zwei, drei Jobs, die sie alle haben, auf den Kopf hauen oder sich gar, Endstadium des zerebralen Wasserschadens, ins "Phallologische Museum" zu einer Sammlung von Tierpenissen verirrt.

Was aber, wenn am letzten Tag vor der Abreise plötzlich kein Wölkchen mehr den blitzblanken Himmel über dem Freilichtmuseum Arbaer trübt, eine südliche Sonne ihre Strahlen in die niedere Holzkirche schickt, wo gerade eine richtige Trauung stattfindet, den Buchdrucker in seiner Werkstatt aufsucht und den ehemaligen Fischer beim Netzereparieren, im Haus Laufásvegur 31 kurz einem kostenlosen Violinkonzert des Sardas Quartetts lauscht und schließlich vor dem Haus des Schmieds die Studenten in ihren historischen Trachten aufwärmt - was dann?
Kein Grund zur Panik. Der wahre Kenner Reykjavíks - und wer wäre das nicht nach einigen nassen Tagen - weiß Bescheid: Eine Betriebspause. Irgendwann müssen sie schließlich gemacht werden, die Fotos.

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