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Wolfgang Büscher "Berlin - Moskau"

Da zieht einer die Tür in Berlin hinter sich zu. Und macht sich auf den Weg nach Moskau. Zu Fuß will er gehen. Und schreibt auch gleich ein Buch darüber.
Tag für Tag 40 Kilometer abgerissen - das könnte eine grauenhaft öde Nabelschau werden. Und gerät doch zu einem grandios lebendigen Bericht. Denn Wolfgang Büscher ist Reporter. Und die wissen, dass sie nicht langweilen dürfen.

Über die Seelower Höhen geht es, geht er nach Küstrin, ins preußische Pompeji. In Polen wacht ein Netz von Deutschlehrerinnen über den Wanderer und warnt noch einmal vor Belorus, Lukaschenkos Land. Doch alles geht, er geht, das grauweiße Massiv von Minsk taucht auf, durch "lauter Wälder, Sumpf und Sand" geht es, geht er über die Beresina, hinein in ein Russland, das "endlich aufhört zu philosophieren und endlich zu tanzen beginnt", vorbei an den Gräbern von Katyn immer weiter nach Osten. Je weiter er vorankommt, desto weiter verschiebt sich im Bewusstsein der Menschen auch die Grenze: Osten - das ist immer drüben. Dort, wo keiner sein will.

Für den Wanderer und den Leser wird die Straße zum Ort der Begegnung: Da ist der Abt des Klosters Lubin, der jedes Jahr nach Auschwitz fährt und auf den kalten Gleisen meditiert. Da erzählt ihr Sohn die herzzerreißende Geschichte der polnischen Gräfin Mankowska, die ihren Mann zweimal aus den Händen der Deutschen rettet. Arkadji, einer der "Liquidatoren" von Tschernobyl, nimmt ihn mit in die gesperrte Zone. Oleg, der Heiler, peitscht ihn mit Wermut. Der Historiker Borodyn erzählt bewegende Geschichten über die Partisanen, und fast immer verlaufen die Grenzen zwischen Gut und Böse in Zickzacklinien - gerade in Belorus finden sich immer wieder "Erinnerungen, nach Holz der einzig exportfähige Rohstoff des Landes". Es sind Menschen, die man als Leser voll Wehmut am Weg zurücklässt, so nahe sind sie einem gekommen.

Natürlich ereignen sich auch Abenteuer. Nicht immer wird der Wanderer mit seinen abgewetzten Militärhosen und dem kahlrasierten Schädel zu einem unauffälligen Teil des jeweiligen Ostens. Natürlich wird auch das Laufen und die tägliche Suche nach einem Schlafplatz gelegentlich zur Qual, natürlich spricht er in seiner Einsamkeit auch mal mit dem Kartoffelpüree - Straßenleben eben.
Vor allem aber finden sich da draußen Geschichten, und es bleibt viel Zeit zum Denken. Ein aufmerksamer und belesener Wanderer wie Wolfgang Büscher macht etwas daraus: Ein exzellent geschriebenes, immer wieder überraschendes, bilder- und gedankenreiches Buch, das nur selten, ganz selten, poetisch aus dem Ruder läuft, wo man reine Sachlichkeit erwartete.

Nach 82 Tagen und 232 Seiten taucht das Ortsschild von Moskau auf. Was - jetzt schon?

Wolfgang Büscher "Berlin - Moskau", Rowohlt 2003, 237 S.,

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