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Die Letzten von Placenctia Bay
An der Südküste Neufundlands verschwinden die Spuren der Vergangenheit


Jack Sullivan hat Besuch. Sein Bruder Joe ist mit dem Boot aus Arnolds Cove gekommen, um beim Bergen und Einlagern der über hundert Hummerfallen zu helfen. Und jetzt hat auch noch Dave Slade mit seiner "Bay Rover II" im winzigen Hafen von Little Brule festgemacht.
Jack nimmt die Pfeife aus dem Mund und strahlt übers ganze Gesicht, dass die Zahnlücken freiliegen und die großen Ohren unter der Baseballmütze aufzuglühen scheinen: Wer das ganze Jahr allein auf einer Insel lebt, mag Besuch. Es muss nur der richtige sein.

Leute wie Dave zum Beispiel, der Mann aus Noth Harbour mit dem grauen Schnauzer und dem trockenen Humor. Freilich: Solange er noch als Wildlife-Officer herumgereist war, hatte sein Auftauchen nicht unbedingt Begeisterung ausgelöst - obwohl er eigentlich nur Seeadler zählte oder Schwarzbären betäubte und ihnen Radiosender umlegte, und sich nicht von Amts wegen darum kümmern musste, wenn mal ein Karibu zufällig seinen Weg in den Kochtopf fand. Aber einer im Staatsdienst, da war man besser vorsichtig...
Doch Dave, da konnte man nichts sagen, war trotz seiner Uniform Mensch geblieben, ein patenter Kerl. Um so besser, dass er jetzt, mit 54, endlich pensioniert ist, und nun mit seinem Boot Maschinenteile für die Come-by-chance-Raffinerie transportiert. Und manchmal auch Touristen. So wie heute.

Das winzige Haus, das Jack sich vor drei Jahren direkt über der Bucht hingestellt hat, ist überheizt. Auf den vielleicht gerade mal zehn, elf Quadratmetern Fläche findet alles Notwendige Platz: Das rote Etagenbett. Die zwei roten Stühle mit dem roten Tisch, auf dem noch Ketchup und Zucker vom Abendessen steht. Herd, Petroleumofen, Radio. Der Karton mit den Sonntagskleidern. Und natürlich der kleine Fernseher, den Jack kürzlich geschenkt bekommen hat, und über dessen Bildschirm gerade eine junge Frau tanzt, ein wenig leichtbekleidet, so dass es Joe, der seinem Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten scheint, fast ein wenig schwer fällt, sich loszureißen und den Gästen zu widmen.

Draußen im Schuppen rattert der Generator. Flackernde Birnen erleuchten den Steg, eine Treppe führt zur Kaimauer hinunter, an der die beiden Booten liegen. Ringsum in der Dunkelheit die Wasser der Placentia Bay: Wie eine breite Klinge schneidet sie zwischen Burin- und Avalon-Halbinsel in den Süden Neufundlands, übersäht von zahlreichen Rostflecken: Eine Ansammlung kleiner und größerer Inseln.

Jack Sullivan stopft die Pfeife und schmunzelt. Er ist zufrieden. Eben ist die Hummersaison zu Ende gegangen: 3000 Pfund hat der Aufkäufer in den letzten drei Monaten bei ihm abgeholt, sechs Dollar das Pfund, da kommt schon etwas zusammen. Und noch besser: Da bleibt auch einiges übrig, jedenfalls, wenn man bescheiden lebt wie er: Fisch liefert die See. Für Vitamine sorgt Joe. Der hat oben auf dem Hügel in einer moorigen Senke Kohl und Kartoffeln gepflanzt und gegen die Möwen ein altes Netz darübergespannt. Bleiben Kaffee und Tabak, viel mehr braucht ein Mann schließlich nicht, solange er gesund ist.

Auch das Schiff hat die ganze Saison tapfer durchgehalten. Dave, der seine "Bay Rover II" Planke für Planke selbst gebaut hat, versteht etwas von Schiffen, mit ihm lohnt eine kleine Fachsimpelei: "Wenn es auffrischt und der Wind von achtern kommt, zickt sie manchmal ein bisschen, aber sonst ist und bleibt sie ein durch und durch braves Mädchen..."

Die Gäste haben Bier mitgebracht. Joes Augen leuchten, Jack lehnt freundlich ab. Schließlich hat er in den sechzig Jahren hier draußen bei seinen beiden einstigen Nachbarn des öfteren miterlebt, was Alkohol anzurichten vermag: Tagelang feierten sie, wenn Geld da war, Paddy tanzte im Petticoat auf den Felsen, am Ende zündete seine Mutter das Haus an... und schon sind sie bei den ganz alten Geschichten.

Nein, sagt Jack. Er hat nie bereut, dass er hiergeblieben ist, damals, als er fünfzehn war, und seine Mutter ihre Sachen packt und mit Joe aufs Festland übersiedelte. Viele gingen damals, von allen Inseln zogen sie weg, Great Brule und King Island und Merasheen Island. Es waren die sechziger Jahre, die Regierung von Neufundland wollte reinen Tisch machen: Viel zu aufwendig war es ihr, all diese winzigen Flecken an den abgelegenen Küsten zu versorgen. Für Dörfer, deren Einwohner zu 90 Prozent einer Übersiedlung in bewohntere Gegenden zustimmten, gab es gutes Geld. 200 Dollar pro Person erhielt eine Familie, die wegzog, dazu 1000 Dollar für das Haus. Manche freilich nahmen ihren Bau lieber mit, setzten ihn auf ein großes Floß und schipperten damit an den neuen Wohnort. "Resettlement" hieß das Programm, und den Gemeinden, die zögerten, half man ein bisschen auf die Sprünge: Das Postboot kam plötzlich seltener, der Lehrer wurde abberufen, die Krankenschwester musste weg...

Er, Jack, hat ausgehalten. Hatte ja seine Unabhängigkeit hier draußen, und sein Auskommen, dank der Fischereilizenz. Die verkaufte er auch nicht, als die Regierung 1992 das "Moratorium" verkündete und den Kabeljaufang verbot, weil die Meere um Neufundland leergefischt waren. Viel Geld hätte er jetzt bekommen können, weit über 100 000 Dollar. Er ging nicht darauf ein, und er fuhr gut damit: Der Hummer bringt Geld, wenn es auch die kräftigen Burschen von früher nicht mehr gibt. Demnächst ist Saison für Capelins, die Lodden - die freilich auch nicht mehr in den Riesenschwärmen an die Ufer kommen wie einst, als man am Strand kniehoch durch verendeten Fisch watete und die Gärten damit düngte. Später dann der Hering, mal sehen, wie es damit steht in diesem Jahr - nein, ein anderes Leben könne er sich nicht vorstellen, sagt Jack. Und Joe nicht eifrig zur Bestätigung.

"There's not a mean bone on him", sagt Dave über Jack, als er mit seinen Gästen am nächsten Morgen von Little Brule ablegt. Das höchste Kompliment, das ein Neufundländer zu vergeben hat: Ein durch und durch anständiger Kerl sei der kleine Mann.
Vorsichtig steuert er die "Bay Rover II" durch die Inselwelt der nördlichen Placentia Bay, die auf der Seekarte an ein verstreutes Puzzle erinnert. Ein geisterhaft schöner Tagesanbruch zieht auf: Aus dem Nebel tauchen Schemen, die an ziellos treibende Schiffe erinnern, an versteinerte Wale und die knochigen Rücken von Riesenechsen, die seit Jahrtausenden bewegungslos im Wasser ruhen. Irgendjemand hat mächtig mit der Schere hantiert und eine Silhouette nach der anderen aufs bleiern ruhige Wasser gesetzt: Sägeblätter, Vulkankegel, felsige Schädel mit schütteren, struppigen Fichtenborsten.

Manchmal schimmert ein heller Fleck aus grün-grauen Waldwänden: Der weiße Kopf eines Seeadlers. Beim Näherkommen gleitet der König der Küste träge von seinem Ausguck und streicht in erhabener Gelassenheit über sein Reich. An sonnigen Tagen, sagt Dave, wiegt sich manchmal ein halbes Dutzend von ihnen hoch oben auf den warmen Winden vom Meer. Ihre Nester, grobe Gebilde aus Stöcken und Knüppeln, erinnern an Biberbauten, die versehentlich in einem Baum gelandet sind. Die Eltern bleiben ein Leben lang zusammen: "Wir kennen ein Paar, das schon 30 Jahre lang dasselbe Nest belegt."

Auf diesen Inseln waren schon die Beothuk zuhause, die Ureinwohner Neufundlands - so lange, bis die weißen Siedler kamen: Iren, die dem Hunger in ihrer Heimat entfliehen und ein neues Leben beginnen wollten, an diesen Küsten, an denen die See im Frühling brodelte vor Kabeljau. Englische Matrosen, die vor der Schinderei auf den Fischereischiffen flüchteten. Oder auch von ihren Kapitänen zurückgelassen worden waren, weil ihre Kajüte, gefüllt mit Stockfisch, mehr einbrachte als der Mann wert war. Ende des 18. Jahrhunderts drangen sie immer weiter vor, und falls sie an einem Morgen wie diesem kamen, ist gut vorstellbar, was sie empfanden, als sie ihre Boote zum erstenmal zwischen den Untiefen durchnavigierten: Staunende Begeisterung. Die Welt uralt und frisch wie am ersten Morgen.

Später war freilich keine Zeit mehr für poetische Anwandlungen: Wald musste gerodet, die erste Hütte gebaut, ein Keller gegraben, ein Bootssteg und Plattformen zum Trocknen der Fische angelegt werden. Die Beothuk störten da nur, leidige Konkurrenten bei der Jagd nach Ottern und Seehunden. Auch in Neufundland galt ein toter Indianer bald als der beste Indianer. Den Rest erledigten Seuchen, die letzte der Beothuk starb 1829.

Am Steg von Bar Haven trocknen die Schnüre einer Muschelfarm. Dahinter zieht sich eine grasige Anhöhe einen Berg hinauf, einst das Zuhause von 50 Familien. Geblieben ist nur das Fundament der katholischen Kirche, vom Gipfel ist die Kreuzform des Grundrisses deutlich zu erkennen. "Sie war sehr groß und hatte wunderbare Deckengemälde", erinnert sich Dave. Bald nachdem Dorf und Kirche aufgegeben worden waren, fackelte jemand sie einfach ab. Eine kleine Erinnerungstafel erzählt Geschichte: Schon 1836 hatte Bar Haven 130 Einwohner, einen Friedensrichter und einen Polizisten, drei Jahre später dann auch schon eine Kirche und eine Schule. Als die Hummerfischerei aufkam, entstand eine kleine Fabrik: Im Jahr 1913 versorgten die 22 Hummer-Packer von Bar Haven insgesamt 59 000 Hummer. Es waren zuviele, die Bestände schrumpften, die Leute wandten sich verstärkt dem Kabeljau zu. Am Ende, Mitte der Sechziger, waren es 200 Männer, Frauen und Kinder, die den Ort für immer verließen: Aufstieg und Niedergang eines Gemeinwesens.

Auch Dave ist in einem Outport aufgewachsen, einem der kleinen Fischernester auf den Inseln, und mit dem Blick auf die alten Mauern kommen die Erinnerungen wieder. Kingwell auf Long Island hatte eine anglikanische Kirche, eine Schule mit einem Raum, einen coop-Laden und eine Saal, in dem Karten gespielt, Musik gemacht und getanzt wurde. Alle 35 Familien lebten direkt oder indirekt vom Fisch: Mit einem Boot auf See, als Arbeiter in der Hummerfabrik, als Helfer beim Ausnehmen und Einsalzen des Kabeljau. Oder auch als Händler, der den Fang aufkaufte und gegen Lebensmittel und Gerät verrechnete: "Er sorgte wohlweislich dafür, dass keine Familie je aus ihren Schulden herauskam".
Die Kinder mussten früh Hand anlegen: Feuerholz spalten, Wasser herbeischleppen, Schafe hüten, Unkraut jäten. "Mit zwölf bedienten wir ganz selbstverständlich das Motorboot, wie trugen mehr Verantwortung als heute 16-, 17-jährige." Und trotzdem: Da Leben verlief gelassener. An Sonntagen nahmen Eltern sich Zeit, mit ihren Kindern picknicken zu gehen und am Strand Muscheln zu kochen. Erneuerte jemand das Dach seines Haus, ließen die Männer ihre Arbeit liegen und halfen mit. Und jede freie Minute nutzten die Jugendlichen, um Hockey zu trainieren. Gespielt wurde gegen andere Teams in anderen Outports, Anfahrt mit dem Boot.

Zum Festland fuhr nur, wer dringende Besorgungen zu erledigen hatte. Die Außenborder streikten gelegentlich, zurückzurudern war harte Arbeit. Und: Nicht immer ging alles gut: Kurz vor Bar Haven erinnert ein Kreuz in den Felsen an die "Delroi". Die war vor 25 Jahren leckgeschlagen, sechs Frauen und Kinder ertranken, als das Rettungsboot kippte.

Je älter Dave wurde, desto enger erschien ihm freilich seine kleine Welt. "Du weisst, da draußen ist mehr, und du musst es einfach sehen." Mit 17 verließ er Kingwell, um in St. John's zur Schule zu gehen. Drei Jahre später zog auch seine Familie weg.
Das Haus überließ sein Vater dem Kaufmann für 150 Dollar. Der verbrachte es auf leeren Ölfässern mit einem Schlepper zum Festland. Und kassierte seinerseits 9000 Dollar dafür. Inselgeschichten, sagt Dave. Und lächelt versonnen.

In den letzten Jahren finden in verlassenen Dörfer immer häufiger "Reassemblements" statt: Die ehemaligen Einwohner treffen sich zu Gottesdiensten unter freiem Himmel und Würstchen vom Grill, lassen alte Fotos herumgehen, die selbstbewusste junge Männer und braungelockte Mädchen in Tanzkleidern zeigen, und singen die alten Liedern, die einst der Dorfpoet geschrieben hat. Nostalgie blüht, das Heimweh nach Zeiten, als man noch die Boote teerte und den Mädchen nachpfiff, da, wo jetzt allenfalls ein paar unscheinbare Fundamente an die einstige Ansiedlung erinnern.
"Vielleicht ist so ein Traffen ganz schön", sagt Dave Slade, der altgewordene Junge aus Kingwell, und blickt hinaus auf den blauen Spiegel der Placentia Bay. "Vielleicht ist es aber auch besser, nur mit den Erinnerungen zu leben."

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