Es gibt Samarkand also wirklich
Bilder aus Usbekistan, Skizzen vom Rand der Seidenstraße
Tamara Chamrajewa steckt im Stress. Die Bäuerin hat sich Untermieter ins Haus geholt, eine Gesellschaft hunderter gieriger Feinschmecker mit anspruchsvollem Geschmack: Alle eineinhalb Stunden erwartet die wimmelnde Menge auf dem Bett aus Zweigen in dem abgedunkelten Schuppen eine neue Lage frischer Blätter, karrenweise führt die Familie Äste nachhause, viele der Maulbeerbäume an der Straße sind schon ganz kahlgeschlagen. Noch zwei Wochen wird das so gehen, dann haben die kleinfingerlangen elfenbeinfarbenen Gäste sich sattgefressen fürs Leben und gehen an die Arbeit: Sorgfältig spinnen sie sich in eine weißgraue Kapsel aus einem feinen, mehrere hundert Meter langen Faden, und erstarren, irgendwo in den Genen die feste Überzeugung, bald als fröhliche Flatterer wiederaufzuerstehen. Daraus wird nichts. Denn jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Tamara Chamrajeva und die ganze Kolchose ihre Kokons in der Spinnerei abliefert, 240 Kilo insgesamt im letzten Jahr. Gnadenlos endet das Insektenleben in heißem Wasser, der Faden der Hülle aber wird sorgfältig aufgespult, handelt es sich hier doch um den Stoff für den Stoff, der nicht nur der Straße, die hier vorbeiführt, den Namen gab, sondern einen Mythos schuf: die Seidenstraße.
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Es gab die Seidenstraße nicht. Es gab seit dem 6. Jahrhundert v.Chr. ein Gewirr von Pfaden und Wegen entlang zweier Hauptrouten, die China und Europa verbanden, über die auch Diamanten, Rosenöl, Glas, Wolle und Sklaven transportiert wurden. Der Buddhismus fand hier von Ost nach West, der Islam nahm später den umgekehrten Weg.
Die heutige Straße von Urgench nach Samarkand verläuft auf einer dieser Trassen. Immer wieder stehen Schlagbäume, kontrollieren Soldaten Autos und Papiere. Längst ist die Seidenstraße zum Transportweg eines ganz anderen Stoffes geworden: Rauschgift. Und dass islamische Fundamentalisten über diese Strecke Waffen erhielten, heißt es, wolle man auch unterbinden.
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Ein Rinnsal! Der mächtige Amur Darja, als Oxus einst Namensgeber des Riesenreiches Transoxanien, windet sich in seinem breiten Kiesbett wie ein unscheinbares Bächlein. Kräftig angezapft wurde er in seinem Oberlauf schon lange, meist versickerte er in den letzten Jahren irgendwo im Sand, ehe er den Aral-See erreichte. Dieses Jahr aber verschärft ein extrem trockener Frühling die Lage. Als ob eine Schlagader abgedrückt würde: Das Wasser des Amur Darja dient nicht nur zur Bewässerung, die salzigen Böden sind überhaupt nur zu bebauen, wenn sie zuvor unter Wasser gesetzt und entsalzt wurden: Zwei Kubikmeter Süßwasser pro Quadratmeter Ackerland sind nötig. Ohne Wasser dehnt Kisilikum sich aus, die "Rote Wüste", mit Saxaulbüschen, Tamarisken und weißen Salzschleiern. Ohne Wasser ziehen bald Hirten mit ihren Karakulschafen, wo jetzt Weizenfelder stehen und Frauen über endlosen Furchen kauern und Baumwollschösslinge vereinzeln.
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Die steinerne Wendeltreppe im Minarett Islam Hodscha von Chiwa ist ausgetreten, glatt und ein Alptraum für Klaustrophoben. Wer den Turm besteigt, tastet sich auf halber Höhe mehrere Meter lang in absoluter Dunkelheit voran, wie durch einen steinernen Maulwurfsgang. Von oben mühen sich Menschen abwärts, Stoff reibt an Stoff, unsichtbare Körper schieben sich aneinander vorbei, nervöses Lachen, unterdrücktes Kichern. Eine plötzliche körperliche Nähe entsteht, zwischen Menschen, die draußen Sprache, Kultur und Traditionen auf weitem Abstand halten. Von oben dann der Blick auf ein Ensemble aus Ocker und Blau, in dem nur die Kleider der Besucherinnen bunt leuchten. Chiwa zeigt sich als eine Ansammlung aus Kupppeln und Quadern, Mauern und Bögen, die perfekte mittelalterliche islamische Stadt, freilich fast bis zur Leblosigkeit restauriert.
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Schachodat singt Suren. Wie klingendes Glas schwingt die Stimme der Reiseleiterin in der alten Moschee, untermalt vom Gurren der Tauben hoch in der Kuppel. "Die Religion zerstreut sich wie ein Nebel", hatte Ulughbek behauptet, der kluge Herrscher Transoxaniens im 15. Jahrhundert, "die Werke der Wissenschaft aber bleiben ewig." Er hat erstmal nicht recht behalten. Seit der Unabhängigkeit Usbekistans ist der Islam zurückgekehrt in die Öffentlichkeit. Neue Moscheen wurden gebaut, alte "aktiviert", mittlerweile wurde gar eine Medrese, eine Religionsschule für Frauen eröffnet. "Gütig sein und im Herzen an Gott glauben", so beschreibt Schachodats Kollege Otabek den "sanften Islam" Usbekistans. Strenges Fasten oder die penible Einhaltung der fünf täglichen Gebete ist Sache der wenigsten Gläubigen. Frauen tragen keine Schleier, nicht mehr seit den zwanziger Jahren, als sie sie im Zuge der russischen Revolution öffentlich verbrannten - was heute freilich gern vergessen wird. Im Land wird Bier gebraut und Wein gekeltert, und beschließen die Usbeken, Besuchern ihre überströmende Gastfreundlichkeit angedeihen zu lassen, kreist nicht nur eine Wodkaflasche.
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Die Kinder am Labi Hauz, dem Zentralteich von Buchara, sind pfiffig, charmant, neugierig und aufdringlich. Für die Jüngeren ist "Fremde gucken" noch ein lustiges Spiel: "Hallo, what's your name?", die Älteren schieben schon ein routiniertes "Pencil, madame?" nach. Noch gibt es Männer, die sie zurechtweisen, wenn sie im Pulk einer Touristin folgen und sich halb totlachen, dass die Lady 15 Dollar für einen Seidenschal hinblättert. Noch geben sich auch die Souvenirverkäufer sehr zurückhaltend, verglichen mit anderen Touristenzielen desselben historischen Kalibers.
270 000 Besucherinnen und Besucher zählte Usbekistan im vergangenen Jahr. Damit ist der Tourismus nach Baumwolle, Bergbau und Erdöl der viertgrößte Devisenbringer. Und er soll noch weiter nach vorn: 250 Millionen Dollar investiert die Regierung während der nächsten fünf Jahre in Straßenbau, Ausbildung, Marketing und die Anschaffung von Bussen. 600 000 Ausländer sollen im Jahr 2005 das Land bereisen. Am Labi Hauz von Buchara kommen sie alle vorbei.
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Rote Rosen, roter Mohn - und dahinter schimmert in mattem Gelb die Perle des Islam, das Samaniden-Mausoleum in Buchara. Erbaut um die vorletzte Jahrtausendwende ist es eines der wenigen Gebäude, die den Ansturm Dschingis Khans im 12. Jh. überdauert haben. Ein Kubus aus ungebrannten Ziegeln, die zu Kreisen, Gittern, Spitzbögen oder Rauten geformt sind. Perfekte Proportionen, vier ungeheuer plastische Fassaden, deren Farbe im Lauf des Tages nacheinander ins Beige, Rötliche, Blaue spielt - es ist einfach nur schön. In einer Nische davor brennen Kerzen. Der Feuergott vertreibt böse Geister, also sprach Zarathustra. Der Prophet stammt weitläufig aus der Region und gilt immer noch ein wenig im eigenen Land.
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In der Disco zu den "Sieben Schönheiten" in Buchara mangelt es nicht nur an diesen, sondern an Gästen überhaupt. Kein Wunder, die Familie hat den Laden erst letzte Woche eröffnet, der Geheimtip, den der Sohn Touristen in der Stadt ans Herz legt, ist noch sehr geheim. Ein bisschen "Mambo Nr. 5", eine Flasche warmes Bier, und die Chefin, die das müde Geschehen überwacht, schlägt auf die Rechnung der Kellnerin schnell noch 1000 Sum auf, eine Art Solidaritätsbeitrag oder so. Jeder muss sehen, wo er bleibt, in einem Land, in dem ein Kolchosearbeiter umgerechnet 30 Mark pro Monat verdient, und eine Tube Zahnpasta 60 Pfennig kostet.
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Timur schreitet voran, kraftvollen Schrittes, acht Meter hoch, in wehendem Mantel. Golden leuchtet er vor den Ruinentrümmern des von ihm erbauten Weißen Palastes in seiner Geburtststadt Sharisabz. Amir Timur, Tamerlan, Timur Lenk, der Lahme wird seit ein paar Jahren zum Nationalhelden zurechtgebürstet. Während der Sowjetzeit galt er als Usurpator, der im 14. Jahrhundert ein Reich von Indien bis zum Mittelmeer zusammenraubte und bei seinen Beutezügen schon mal eine Pyramide aus Schädeln der Besiegten errichten ließ. Aus heutiger Sicht strahlt er als der große Reformator, der Bauherr prächtiger Moscheen, der Förderer des Handels und der Kultur. Vor allem aber als Stammvater der Nation, der es verstand, den Laden zusammenzuhalten.
Usbekistan braucht einen, der den Laden zusammenhält, ist die Botschaft. Und die andere: Islam Karimow, Präsident seit 1991, ist der richtige dafür. Karimow wirbt von Plakaten für Respekt vor Greisen, Kinder lernen Merksätze von ihm in der Schule, Tafeln an neu errichteten Denkmälern für islamische Wissenschaftler erinnern daran, wer diese eingeweiht hat: Islam Karimow.
Lenin übrigens, der in Sharizabs zuvor Timurs Stelle eingenommen hatte, ist verschwunden. Spurlos, war ja nur aus Gips. Auch Timur, der Goldene, ist nur aus Gips, vernünftigerweise.
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Es gibt Samarkand wirklich. Es ist nicht nur ein Versatzstück aus Goethes "West-östlichem Diwan" oder ein Mythos aus 1001er Nacht. Sondern eine Stadt mit breiten Straßen, über denen abends bunte Lichter in Form von Ranken oder Blumen leuchten und einem grünen Boulevard mit mächtigen Bäumen. Frösche quaken, vor einer Teestube blinzelt ein angeketteter Geier müde ins Licht. "Decoration" sagt der junge Mann, der die Fremden gern ein wenig herumführen würde und hinterher weder Trinkgeld noch die Einladung zum "Baltica"-Bier annimmt. Im Biergarten "Prag" donnert eine CD mit amerikanischen Weihnachtsliedern aus den Boxen und Semena, die zurückhaltende Kellnerein amüsiert sich köstlich, als sie hört, welches Ereignis "Stille Nacht" beschwört.
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Soviel Gold. Es blitzt aus Mündern, funkelt an Mützen, leuchtet in den Kuppeln der Moscheen und schimmert an den Fassaden der drei hufeisenförmig gruppierten Medresen auf dem Ragestan, dem Hauptplatz von Samarkand. Die klotzig gebauten, filigran gestalteten Prunkfassaden sind Riesenkulissen, die den Beschauer ganz klein halten. Erstaunlich, was der Mensch sich einfallen lässt, wenn ihm verboten ist, sich ein Bild von Seinesgleichen zu machen. Die Arabesken und Ornamente auf den Majolikakacheln - da ist alles reine Form, pure Farbe, bloßer Rhythmus. Nichts, woran der Blick sich festhalten könnte, nichts, was ablenkt von der Versenkung. Doch dem westlich erzogenen Auge fehlen bald die Bilder, die Geschichten erzählen. Dankbar erfasst es die Tiger an der Fassade von Schir-dar, die eine Antilope jagen - endlich hat sich einer mal was getraut!
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Wie ein zerfasernder Faden überzog das Wegenetz der Seidenstraße Zentralasien. Zusammengeführt wie in einem Nadelöhr wurde es in den Basaren von Chiwa, Buchara und Samarkand.
In den Basaren lebt die Seidenstraße fort: mit den Hügeln blauer oder grauer Rosinen, den Stapeln lehmbraunglänzender Brote, den liebevoll arrangierten Häufchen von Erdbeeren und Tomaten, die die Kolchosefrauen in den ihnen zugestandenen Privatgärten gezogen haben. Täglich ein Fest der Farben, aus dem Rot von Kirschen, dem Grün der Melonen, dem Nachtblau, Sonnengelb und Tiefrosa der großgeblümten Kleider der Frauen. Fröhlich dekoriert ist er, der tägliche Kampf ums Überleben. Scharfzüngige Spötterinnen mit mongolischen Zügen winken die Fremden heran, Kinder in dunklen Schulanzügen drücken ordengeschmückten russischen Weltkriegsveteranen ein paar Sum in die Hand: Der Basar atmet etwas von der multikulturellen Atmosphäre der Seidenstraße von einst, vom "warmen Geist" Usbekistans, in dem immerhin 130 Völker unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen miteinander zurechtkommen müssen.
In den Handelskuppeln von Buchara aber, wo einst Geldwechsler, Juweliere und Mützenmacher die Karawanen erwarteten, lagern die Schätze der Reisenden von heute: Handgeschmiedete Messer, Teppiche, Marionetten, punzierte Kupferschalen. Selbstvergessen wühlen Touristen in luftigen Haufen, wälzen schillernde Ballen mit Mustern wie Pfauengefieder und können gar nicht genug kriegen vom sanften Knistern jenes fast schwerelosen Gespinsts, das einst Völker zueinander führte und einem einfachen Handelsweg einen magischen Klang verlieh: Seidenstraße.
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