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Tika von Krishnas Mutter
Jenseits der Achttausender: Begegnungen in einem nepalesischen Dorf


Jambi grinst, er weiß, was kommt. "Pull on, slowly forward." Wir tauchen die Paddel ein und schaufeln Wasser. Das Tosen rückt näher, schon gleiten wir hinein in die weißen Wirbel von "Ladies Delight", einer der zahlreichen Stromschnellen des Trisuli-River. Gischt schlägt hoch, das Boot bockt störrisch und reitet polternd die kuppigen Wellen ab. Plötzlich schnellt Heinrich vom Sitz und findet sich verdutzt und klatschnaß auf dem Gummiboden wieder, direkt neben dem ängstlich gackernden Huhn, unserem lebenden Proviant.
"Next time right side!", brüllt er lachend unter seinem Helm hervor. Und, keine Frage, beim nächsten Strudel wird Jambi dank seiner Ruderkünste wieder die Fahrgäste zur Rechten ordentlich abduschen lassen - zu unser aller Gaudi: im Spritzwasser werden Deutsche wie Nepalesen zu Kindsköpfen.

Im Grunde ist der Trisuli ein sanfter Fluß. Von den sechs Schwierigkeitsgraden, die Wildwasserfahrer kennen, weist er gerade mal drei auf. Aber der Spaß am Schaum ist ja nur der eine Teil des Vergnügens. Die meiste Zeit treiben wir mit sechs, sieben Stundenkilometern gemächlich dahin und schauen: Auf den abgeernteten Reisterassen schichten Bauern Stroh zu runden Türmen, an schmalen Felsvorsprüngen kauern Angler wie festgeklebt, überm Wasser taumeln handtellergroße Schmetterlinge und lassen sich auf unseren gelben Schutzhemden nieder.

Zwei Tage schon sind wir mit dem grauen Schlauchboot, Steuermann Jambi und seinem schweigsamen Helfer Pim unterwegs: Gabi und Heinrich aus Hessen, Sekretärin in einem Frauenbildungswerk und Techniker in einem metallverarbeitenden Betrieb. Nabina und Kalapana aus Kathmandu, die sich ihre ersten Sporen als Touristen-Führerinnen verdienen sollen. Sowie ihr journalistischer Begleiter. Drei Wochen lang wollen wir ein Nepal jenseits der ausgetrampelten Pfade der Himalaya-Region kennenlernen. Wir wollen aufs Dorf. Und wir kommen mit dem Boot.

Smogcity Kathmandu liegt hinter uns. Geblieben sind Erinnerungen an die erhabene Leichtigkeit der Tempel von Bhaktapur und Patan. Noch lebendiger aber die Bilder der "alternativen" Rundfahrt mit dem Stadtplaner Bhushan Toladhar: Zerlumpte Menschen, die, für fünf bis zehn Rupien das Kilo, Plastiktüten aus dem Müll klauben. Frischgepflanzte Straßenbäume, "sponsored by Carlsberg", die in der grauen Luft ums Überleben ringen. Der Fluß, an dessen gereinigtem Ufer sich, trotz Stacheldrahts, schon wieder neue Slumhütten breitmachen. Bilder, die Mut zur Realität erfordern - auf beiden Seiten.

Gegen halb vier fallen die Schatten in das tief eingeschnittene Flußtal. Wir legen an einer weißen Sandbank an und stellen die drei Kuppelzelte auf. Ein Bauer bringt ein Bündel Feuerholz, schon schnitzeln, häckseln und brutzeln Jambi und Pim Hand in Hand und servieren bald darauf ein perfektes Menü aus gebackenen Kartoffeln, Gemüsecurry - und Hühnerklein. Dazu farbige Geschichten von einem zwanzigjährigen Leben auf dem Fluß, von gefluteten Kameras, gekenterten Booten und abgesoffenen Lebensmittelvorräten - die Art von Geschichten, denen man mit Begeisterung zuhört, wenn man satt und trocken um ein Lagerfeuer sitzt.

Vier Tage später treffen wir, weitergereist im Kleinbus und zu Fuß, in Narayansthan ein, begrüßt mit Blumen von einer Gruppe Frauen. "Unser" Dorf ist eine über mehrere Hänge und Senken verstreute Gemeinde aus neun Weilern, in der insgesamt 5000 Menschen leben. Die Häuser sind aus Feldstein oder Ziegeln und meist mit Lehm verschlämmt. Reisterassen, Felder und Gärten erstrecken sich dazwischen. Es gibt keinen Strom, keine Kläranlage, keinen Arzt und keine geteerten Straßen. Eine tiefe Schlucht, durch die nur ein Fußpfad führt, trennt das Dorf vom Städtchen Kusma, der nächsten Anbindung an das Verkehrsnetz.

Eine Siedlung wie Hunderte. Und auch das schöne Panorama schneebepuderter Himalaya-Spitzen hinter den Hügeln teilt sie mit vielen anderen. Was also prädestiniert ausgerechnet Narayansthan, zum Objekt der Begierde deutscher Urlauber zu werden?
Nichts anderes als der zufällige Umstand, daß der Mitinhaber einer großen Reiseagentur hier geboren wurde. Sein Heimatdorf, befand der 32-jährige Krishna Karki, sollte ein Stück vom nahrhaften Tourimus-Kuchen abbekommen. So bemessen allerdings, daß es sich nicht daran verschlucken würde.

Und also werden örtliche Führer ausgebildet, und heimische Träger rekrutiert, zusätzlich zu den sechs jungen Männer des Profi-Trekking-Teams, die zu unserer Versorgung aus Kathmandu angereist sind. Diese Träger kommen vornehmlich aus der Kaste der Unberührbaren, sogar zwei Frauen sind darunter, denen wenig andere Möglichkeiten bleiben, Geld zu verdienen.
Und deshalb wandert ein Prozent des Reisepreises in die Kassen von SWAN (Social Welfare Association of Nepal), einer Organisation, die sich um die sozialen Belange im Dorf kümmert.
Geld und Arbeitsplätze soll er bringen, der Tourismus - aber auch einen Anreiz für die Dorfbewohner, ihren Ort den Fremden so sauber und fortschrittlich wie möglich zu präsentieren. Und keinesfalls soll er das Gefüge des Dorfes zerstören: Nicht mehr als 70 bis 80 Urlauber pro Saison sollen es nach dem Willen des Veranstalters werden.

Unsere Zelte stehen im Garten der Familie Karki. Etwas abseits, wie immer, das Küchenzelt. Ebenso wie das Toilettenzelt um das frischgegrabene Loch in der Erde. "Stolper' besser nicht", gibt Gabi hilfreich mit auf den Weg in die Nacht.

Am Morgen erwachen wir vom Röhren des Wasserbüffels und vom Klappern der Kessel, in dem die Jungs uns heißen Tee ans Zelt bringen. Die Magd fegt den Hof. Krishnas Mutter, Dammer Kumari, reibt uns zur Begrüßung den "Tika" auf die Stirn, den roten Farbfleck, Symbol für Frieden und Glück. Ein Schälchen Reisbrei, ein halbes Omelett - und hinein geht es ins volle nepalesische Leben.

Ein Onkel der Familie ernährt sich aus religiösen Gründen seit vier Monaten nur von Milch und Obst. Jetzt, zur Zeit des Vollmonds, veranstaltet das Dorf zu seinen Ehren eine 12-tägige Zeremonie, "Devi Sabdaha". Auf dem Weg zu seinem Haus stellt Krishna uns einem 80-jährigen ehemaligen Gurkha-Soldaten vor, der auf Seiten der Engländer gegen die Deutschen gekämpft hat. Stockgerade, der Mann: "Good morning, sir. Madam!"
In dem provisorischen Tempel aus Bambus und blauem Wellblech lesen Priester leiernd aus der "Bhagavad Gita" vor, der Heiligen Schrift der Hindus. Am Schluß ziehen die Gläubigen unter Absingen eines fröhlichen Liedes dreimal um den Pavillon, wir mittendrin. "Nicht viel anders als bei den Katholiken", faßt Gabi ungerührt zusammen. "Blumen, Glocken, Rauch, Kerzen - und eine lange Litanei".

Ein Ausnahmeereignis. Aber was bleibt künftigen Gruppen - schließlich wird niemand fasten, nur um Touristen Augenfutter zu bieten? "Die einen helfen bei der Aussaat", meint Krishna, "die anderen bei der Ernte, die dritten lernen, Büffel zu melken - und an Festen herrscht sowieso kein Mangel." Teilnahme am Jahresablauf, am wechselnden Alltag - einen nepalesischen Heimatabend für Besucher wird es nicht geben.

Es ist Samstag, der arbeitsfreie Tag im Land. Kinder machen Schularbeiten, Männer fällen Bambusstämme, Frauen flechten auf selbstgebauten Rahmen Grasmatten. Ein Junge, der irgendetwas von "Rupies" murmelt, erhält einen deutlichen Rüffel von Krishna.
Eine ältere Frau lädt uns zum Tee in ihr Haus. Sie kocht auf offenem Feuer, die Augen tränen vom Holzrauch, bis auf das Blechgeschirr an der Wand und eine einfache Holzbank ist der fensterlose Raum leer, ein grob behauener Treppenbaum führt nach oben. Heinrich schüttelt schweigend den Kopf.

In Weiler Nummer neun dirigiert ein Bauer seine Büffel vor dem Pflug durchs Feld. Senf wird er anbauen, den Samen dann zu Speiseöl pressen. Der Journalist, der sich in Landarbeit versuchen will, wirft Schlangenlinien auf, sehr zum Vergügen des jungen Mannes, der hinterher die doppelte Arbeit hat. Das Bild des Gespanns suggeriert eine falsche Idylle: 90 Prozent der Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Doch die Böden sind erschöpft, Unwetter führten in diesem Jahr zu Ausfällen, Wassermangel gestattet nur eine Ernte im Jahr, während anderswo im Land nacheinander Reis, Hirse und Winterweizen gedeihen. Nicht umsonst ist Gastritis eine der häufigsten Krankheiten in Nepal: Der Kampf ums Überleben schlägt auf den Magen.

Nebenan im Garten wachsen Knoblauch, Bohnen und Kartoffeln, auf einer Matte trocknen zerriebene Rettichblätter als Suppeneinlage für den Winter. Vor zehn Jahren kannte man im Dorf nur Reis, Hirse und Mais. Krishnas Mutter war die erste, die sich im Gemüseanbau versuchte. Ebenso wie sie als erste eine Biogasanlage installieren ließ. Oder die erste Frauengruppe ins Leben rief.

Heute sind rund 70 Frauen in fünf Gruppen organisiert und haben die Entwicklung des Dorfes in ihre Hände genommen, da viele Männer als Soldaten Dienst in Indien oder Großbritannien tun.
Zu selbstgezogenen Papayas, Ananas und Pomelos servieren sie Krishna, dem Mann mit Geld und Verbindungen zu SWAN, ihre neue Wunschliste: eine öffentliche Toilette und eine Bewässerungsanlage stehen darauf - und eine Informationsfahrt: Andere Dörfer besichtigen und frische Ideen nachhause bringen.
Doch auch andere Weiler haben Wünsche: eine Brücke oder ein Stück Straße etwa. Am Ende klärt der Vorstand von SWAN, welchen Projekten Priorität gebührt, wieviel Geld es gibt, und worin die Eigenleistung des Dorfes besteht.
Auf diese Weise entstanden 36 Wasserstellen: Aus einer 17000-Mark-Spende des Rotary Club Rheine bezahlte SWAN Material und Handwerker, den Transport von Steinen und Zement übernahmen die Dorfbewohner selbst.

Wir sitzen mittendrin, Touristen mit endlich gutem Gewissen, haben wir doch über den nicht gerade bescheidenen Reisepreis bereits unser Scherflein beigetragen. Und sehen und wissen doch, daß es nicht, nie reicht. Geld brauchen sie. Nicht einen "symbolischen Akt", wie etwa die Ausgabe von Altkleidern, die der Prospekt des deutschen Veranstalters in salbungsvoller Penetranz vorschlug (von der vor Ort freilich keine Rede mehr war). Es sind auch nicht die "Ärmsten der Armen" von Nepal - das allerdings sehr wohl zu den ärmsten Staaten der Welt zählt.

Zeit zum Mittagessen. Das Trekking-Team hat unter ausladenden Mango-Bäumen angerichtet: Puris, ausgebacken Teigfladen, gemischten Salat mit Thunfisch, hinterher Vanillepudding. Richtige Dorfkost ist das nicht. Offenbar traut Krishna der Genügsamkeit der Besucher nicht so ganz - zu Recht: "Schon was anderes als Hirsebrei und Reis mit Linsen tagaus tagein", sagt der Journalist. Und fünf Leute sind sich ausnehmend einig.

Der Tag verfliegt. Ein Bummel zur örtlichen Blindenschule. "My name is Henry" sagt Heinrich inmitten eines Pulks blinder Kinder, die seine Arme und sein Gesicht betasten. "So, und jetzt laßt mich mal durch." 28 Kinder aus der Region wohnen in dem Internat und gehen in die Sekundärschule nebenan. Sie machen für uns Musik, tanzen, sprechen prima Englisch und fragen, wie Gleichaltrige in Deutschland so leben. Wundert es, daß wir, angesichts des stickigen Raums, in dem acht Mädchen wohnen, es vorziehen, feige zu untertreiben?

Und uns eilig auf den Weg machen zum Dorffest, gleichfalls zu Ehren des fastenden Onkels. Im harten Schein einer Kerosinlampe rücken Dutzende von Menschen auf ihren Matten eng zusammen. Musik setzt ein, Trommeln und Zimbeln, ein Tänzer, barfuß und in Alltagskleidern, tritt in die Mitte, beginnt sich zu drehen, kunstlose Schritte, die schneller werden und schließlich, exakt zwei Takte vor Ende des Liedes, stoppen. Andere folgen, Männer, Frauen, Kinder, eine nach dem anderen.
Irgendwann lassen die Blicke keine Zweifel, daß nunmehr die Touristen ihr Teil zur Unterhaltung beitragen sollten. Heinrich gibt sich einen Ruck, tritt auf den Lehmplatz, löst, ganz eleganter Tanzbär, die Aufgabe bravourös und erhält warmen Beifall: Schön, daß die Fremden sich nicht zieren.

"Gehen wir nachhause", sagt Gabi. Nachdenklich suchen wir unter dem silbernen Mond unseren Weg. Was wird aus diesem Dorf werden? Wird in einem Jahr der Goldschmied seine Ohrringe bereits als "Souvenir aus Narayansthan" anbieten? Werden die ersten Kinder sich nur noch gegen Rupien in Fotopositur setzen? Vielleicht auch nicht.

Eines aber steht fest: Ob das nun "sanfter" Tourismus ist, was wir betreiben, oder "nachhaltiger" - diese Tage rütteln uns wach. Sie vermitteln eine Erfahrung, die die Fremdenverkehrsindustrie schon weitgehend zerstört hat: Endlich wieder einmal bewegen wir uns nicht zwischen Kulissen und Personal. Endlich einmal erfahren wir wieder Land und Leute. Mit anderen Worten: Wir reisen.

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