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Tauziehen im Tien-Shan
Als Nomade auf Zeit in Jurtencamps in Kyrgysstan


"Von hier aus war rundum alles zu sehen. Die höchsten Schneegipfel, die nur noch der Himmel überragte. Sie lagen hinter allen Bergen, über allen Bergen und über der ganzen Erde. Und am entferntesten Ende der Erde, das der Blick gerade noch erreichte, hinter einem sandigen Küstenstreifen schimmerte in sattem Blau der gewölbte See Issyk-Kul."
Tschingis Aitmatow "Der weiße Dampfer"

Noch eine Schale Kumys? Taken strahlt verhalten: Gäste kommen selten hier hoch zum Dschailoo, dem Lager auf den Bergwiesen, wo sie mit ihrer Familie und der Pferdeherde den Sommer verbringt. Die Luft ist morgenfrisch und klar, hinter dem Zelt ragen die weißbepuderten Spitzen des Tien-Shan 5000, 6000, 7000 Meter hoch auf, ganz weit oben kreisen zwei Geier. Noch näher am Himmel als wir, genauso verloren in der Weite.

Ja bitte, noch eine Schale Kumys! Die blass-weiße Flüssigkeit schmeckt säuerlich, prickelt auf der Zunge ein klein wenig metallisch und findet bei uns Touristen - vier Holländer, ein Däne, ein Deutscher - durchaus geteilten Anklang. Dshildis, die Dolmetscherin, und Elmira, Chefin der Firma Ecotour, lieben den Kumys.

Wie es hergestellt wird, das Nationalgetränk der Kirgisen? Taken fängt eine Stute mit Fohlen ein und beginnt sie zu melken. Die Milch - sechs bis acht Liter pro Stute am Tag - schüttet sie in einen großen ledernen Behälter mit schon fertigem Kumys. Zwei Stunden lang wird der Inhalt mit einem hölzernen Stößel durchgeschlagen, ehe er, warm verpackt, in einer Ecke des Zeltes leise vor sich hingären darf. Das Geheimnis aber ist der Rauch: Alle paar Tage wird das Lederfass über einem Feuer aus bestimmten Kräutern ausgenebelt.

Es wird Zeit für den Rückweg. Die kleinen Pferde mit den abgewetzten Sätteln stapfen trittsicher und gelassen bergab. Die, die Reitanfänger auf ihren Rücken spüren, rupfen hier ein paar Salbeiblätter, da etwas Klee und lassen sich auch nicht durch wilde "Tschu! Tschu!"-Rufe aus ihrem meditativen Spaziertrott bringen. Die anderen jagen, angetrieben von der kurzstieligen Peitsche, zwischendurch auch schon mal im Galopp über blühende Hänge.

Weit voraus, tief unten zeigt sich, eingerahmt von einer grauen Felsbarriere, der blassblaue Spiegel des Issyk-Kul. Der "Heiße See" mitten im Tien-Shan, die "Perle" der "Himmelsberge" ist mit 180 Kilometern Länge und 60 Kilometern Breite der zweitgrößte Hochgebirgssee der Welt. Dies ist der See, über den der berühmteste kirgisische Dichter den "Weißen Dampfer" ziehen ließ. Dies ist Tschingis Aitmatows Land.

Wie frische Champignonköpfe schieben sich am Fuß der Felsen fünf graue Kegel aus den saftig grünen Matten: Die Jurtensiedlung von Temir-Kanat, eine von sechs, die die kirgisische Firma Ecotour betreut.

Ecotour wurde vor eineinhalb Jahren mit dem Ziel gegründet, im "Biosphärenreservat" des Issyk-Kul nachhaltigen Tourismus zu betreiben. Mit rund 43 000 Quadratkilometern, einer Fläche von der Ausdehnung der Schweiz, ist diese Region eines der größten der insgesamt 338 Schutzgebiete der Welt, in denen "naturnahe Lebensräume in Verbindung mit traditioneller Kultur" erhalten werden sollen.

Die Jurte ist ein solches Stück Kultur. Mehrere tausend Jahre zogen die Kirgisen als Nomaden durch die Berge, wahrscheinlich fast genau solange begleitet von der praktischen Unterkunft, die in zwei Stunden auf- und abzubauen war. Nach der russischen Revolution wurden die Bewohner in Dörfer angesiedelt und verbrachten nur noch den Sommer auf den Dschailoos. Die Jurte verlor an Bedeutung, blieb aber weiterhin mobiles Sommerheim, Ort für die großen Feste - und Leichenhalle: Jede, jeder Tote muss drei Tage in einer Jurte aufgebahrt werden - auch heute noch.

Heute weiden aufgrund des drastisch gesunkenen Viehbestandes nur noch wenige Hirten ihre Schafe, Pferde und Kühe in den Bergen. Die Touristen von Ecotour sind nicht bei ihnen untergebracht. Ihre Jurten sind neuer, geräumiger und sauberer, und sie vermitteln, wie nicht anders versprochen, allenfalls einen "Hauch des Nomadendaseins". Das ist weniger abenteuerlich als erwartet, aber komfortabler als angenommen.

Vor den stumpfen Riesenzipfelmützen stehen Bänke, in Trögen wachsen Zwiebeln und am Rande der Siedlung erhebt sich ein kleines, aus Feldsteinen gemauertes Gebäude mit Sonnenkollektoren und zwei schwarzen Fässern auf dem Dach: Plumpsklo und Dusche, aus der derzeit freilich nur kaltes Wasser plätschert: Zu wenig Sonne in den letzten Tagen. Strom für die abendliche Beleuchtung liefert ein vom Wildbach gespeister Generator.

Es ist Zeit zum Mittagessen. Die Filzklappe über dem "Tündük", dem Holzreif an der Spitze der Jurte, ist zurückgeschlagen. Sonnenstrahlen beleuchten die ausgeklügelte Konstruktion: Aus einem kreisförmigen Scherengitter, sechs, sieben Meter im Durchmesser, ragen Stangen schräg hoch zur Mitte und treffen sich im Tündük. Matten aus Federgras sind rundum ans Holz gebunden, dicke Filzbahnen mit Kordeln und Tauen darüber festgezurrt. Teppiche über einer Plastikplane bedecken den Boden, Filzstreifen mit farbenprächtigen Ornamente schmücken die Wände.

Auf einem Läufer mitten im Raum wartet das Essen, reichhaltig wie immer: Schmalzgebäck in verschiedenen Formen, frisches Brot, dicke Sahne als Aufstrich, Tomaten und Gurken, Käse, Marmelade und Wurst. Wir Touristen knien oder setzen uns auf den Boden, die Tochter des Camp-Managers bringt einen Topf. Beschbarmak gibt es heute: In heißer Brühe schwimmen Nudeln, Möhren, Kartoffeln und Lammfleisch. Sie füllt die Teller und kauert sich ans Ende der Tafel. Gießt Tee ein aus dem Samowar, oder Kumys aus der Flasche, schweigend bis zum Ende der Mahlzeit.

So will es die Tradition. Und der fühlen sich alle verbunden, die für Ecotour arbeiten. Es sind nur Kirgisinnen und Kirgisen, keine Selbstverständlichkeit im Vielvölkerstaat Kyrgysstan. "Russen verstehen das nicht", sagt Elmira knapp. "Sie steigen einfach über den Tisch, legen das Brot verkehrt herum oder geben es mit der linken Hand weiter." Dshildis ist 23, studiert Deutsch in Bishkek, hört gerne die Spice Girls und "I'm strong enough" von Cher. Nichtsdestotrotz sind ihre Eltern für sie "Heilige Menschen" und sie betrachtet es als ganz selbstverständlich, dass es die Pflicht des jüngsten Bruders in jeder Familie ist, für sie im Alter zu sorgen.
Als selbstbewußte Personen, die stolz sind auf ihr Land, ihre Kultur und sich selbst, sollen die Angestelllten den Touristen gegenübertreten - nicht als Almosenempfänger: Trinkgelder sind nicht erlaubt.

Das klingt gut. Vielleicht aber auch nur naiv, in einem Land, das seit der Unabhängigkeit vor acht Jahren von hoher Inflation, Arbeitslosigkeit und einer katastrophalen Außenhandelsbilanz gebeutelt wird, und in dem das Geld, von dem Touristen immer zuviel haben, zum Leben und Überleben an vielen Ecken und Enden fehlt.
Doch Elmira, die strenge Managerin, scheut sich nicht, Anlaufschwierigkeiten beim Namen zu nennen: Es gab ein Camp, in dem die Betreiber am Essen sparten, kenntnislose Führer einstellten, nur weil sie Verwandte waren, und Gäste für ihre Ausflüge extra bezahlen ließen. Es wurde geschlossen - auch als warnendes Beispiel für die anderen.

Die Camps liegen vornehmlich in Gegenden, in denen Tourismus bisher keine große Rolle spielte. Gastfreundschaft dafür umso mehr. Und das soll so bleiben, hofft die Chefin: Pro Saison wird keine Jurtensiedlung mehr als 60 Gäste aufnehmen, nie mehr als zwölf zur Zeit. 320 sollen es insgesamt in diesem Jahr werden. Und die sollen wandern, reiten, schwimmen. Und, soweit sich das aus dem Dorfalltag ergibt, das Leben der Kirgisen kennenlernen - ohne dass besondere Folkloreveranstaltungen organisiert würden.
Tünem bildet da eine Ausnahme. Jede Woche kommt der 73-jährige, ein Dschingis Khan in reifen Jahren, aus dem Dorf hochgeritten, spuckt ein paarmal entschlossen aus, streift den prächtigen golddurchwirkten Mantel, den "Tschepken" über und lässt seinen Adler "sirha" auf den dicken Lederhandschuh hüpfen. Dann stellt er sich in Positur. Er ist Beizjäger seit seiner Jugend, einer der drei letzten in Kyrgysstan. In diesen Wochen freilich haben Murmeltiere, Füchse und Wölfe Ruhe: Es herrscht Schonzeit, den Gästen bleibt somit nur das Foto: "Ich mit Adler und Tünem". Der jedem den Arm gleich freundschaftlich um die Schulter legt.

Nicht ganz zufällig findet sich an diesem Nachmittag auch die Landjugend des Dorfes in der Siedlung ein. Es gibt keinen Anlass für Reiterspiele - außer der Anwesenheit von ein paar Journalisten. Auf der weiten Ebene zeigen die jungen Männer und Frauen, was abgeht in Kyrgysstan, wenn einmal richtig gefeiert wird, und wozu einheimische Reiter wirklich imstande sind. Hoch zu Ross hauen sie sich Strohsäcke um die Ohren, ringen, nackt bis zum Gürtel, von Sattel zu Sattel, greifen in fliegendem Galopp nach Münzen am Boden. Jungs verfolgen Mädchen und küssen sie. Schaffen sie es nicht, kriegen sie auf dem Rückweg von ihnen die Peitsche. Hinterher klopfen sie sich sorgfältig die Sonntagshosen aus. Zum Tauziehen und den Kämpfen auf menschlichen Pferden werden auch die Europäer eingeladen. Und gehen unter gegen die stämmigen Muskelmänner, deren Nationalsport nicht umsonst - Ringen ist.

Es wird viel gelacht an diesem Nachmittag, es herrscht eine Stimmung unkomplizierter Fröhlichkeit. Ferienstunden von einem Alltag, der für viele Kirgisen recht grau ist.
Als 1991 aus der Sozialistischen Sowjetrepublik Kirgisien die Unabhängige Republik Kyrgysstan wurde, und aus der Hauptstadt Frunse die Kapitale Bishkek, löste man die großen Kolchosen auf und viele Menschen verloren ihre Arbeit. Auch der regionale Tourismus, der einst jedes Jahr eine Million Touristen an den Issyk-Kul geschwemmt hatte, ging nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drastisch zurück. Am Nordufer des Sees ragen zwischen Erholungsheimen und Ferienlagern, die die besseren Zeiten noch gesehen haben, die Bauruinen der Hotels hoch. Der kirgisische Staat hat kein Geld. Seine Angestellten warten seit einem halben Jahr auf ihr Gehalt.

Zarylkan muss, als sie jung war, eine wunderschöne, energische Frau gewesen sein. Auch jetzt, den Enkel im Arm, leuchten ihre Augen noch wie schwarzes Licht. Aber ihr Gesicht ist müde, ihre Stimme klingt resigniert. In Dscheti-Ögus, einem der anderen Camps, lädt sie uns in ihre Jurte ein und stellt Brot auf den Tisch. Über dem Ofen trocknen gefüllte Klöße, die Fibel für die Enkelin stammt noch aus der Sowjetzeit. Das Leben ist bitter geworden in den letzten Jahren. Als ehemalige Krankenschwester erhält sie 279 Som Rente im Monat, umgerechnet etwa 14 Mark. Ihr Mann, einst Kraftfahrer von Beruf, bekommt nicht viel mehr. Früher, sagt sie, gab es in Dscheti-Ögus zwei Kindergärten - jetzt ist da keiner mehr. Das Krankenhaus hatte 75 Betten. Fünf sind noch davon übrig. Die medizinische Schule in Karakol bildete einst 250 Studenten aus. Heute sind es noch 100. Ihre Kinder finden keine Arbeit, das Geld reicht knapp für Essen und Kleidung. Ob sich irgendetwas verbessert hätte seit der Unabhängigkeit? Zarylkan denkt lange nach. Ja: Es gibt mehr ausländische Besucher in Kyrgysstan. Die Welt, glaubt sie, weiß mehr über das Land.
Vielleicht ist sie auch nur höflich. Denn Ecotour mietet ihr Pferd den Sommer über, 500 Som pro Monat, ein erfreuliches Zubrot. Dass ein guter Teil des Geldes in der Region bleibt, ist ein wesentlicher Teil der Firmenphilosophie: Neue Jurten werden bei lokalen Handwerkern in Auftrag gegeben, die Stellplätze für die Siedlungen für fünf Jahre von den Gemeinden gepachtet. Manager, Köchinnen und Führer stammen aus den umliegenden Dörfern, wo auch die Lebensmittel eingekauft werden.

Die Camps um den Issyk-Kul liegen 200, 300 Kilometer voneinander entfernt, in ganz verschiedenen Klima- und Vegetationszonen. Die Gegend um Dscheti-Ögus etwa erinnert an das Allgäu: Dunkle Fichtenwälder wechseln mit weiten Bergwiesen, auf denen Iris, wilde Stiefmütterchen und büschelweise Edelweiß blühen. In Ak-Sai dagegen, an der Südküste des Sees, wirkt die Welt, als habe sie eben erst zu sich selbst gefunden: Auf ockerfarbenen, kahlen Hügelketten und weiten Steinwüsten darben Disteln und recken hässliche Parasitenpflanzen ihre schwarzen Kolben aus dem Sand.
In Son-Kul wiederum, auf 3000 Metern Höhe, blüht die Steppe. Lerchen jubilieren, Schneehühner ducken sich in die Wermutbüsche, Zitronenstelzen wippen keck mit dem Schwanz: Erfahrene Ornithologen beobachten während einer Woche Dutzende und Aberdutzende der 330 verschiedenen Vogelarten Kyrgysstans.

Wenige, holprige Straßen schnüren durch das bergige Land. Die Fahrt im Kleinbus von Camp zu Camp ist anstrengend, aber lehrreich, literarisch gesehen.
Erst wer einmal durch die vereinzelten Dörfer gekommen ist, mit Bienstöcken und knorrigen Obstbäumen vor den grauen Holzhäusern, wer die zerfallenden Kolchosen passiert und die blonden russischen Kinder neben den kirgisischen mit den schwarzen Igelköpfen spielen gesehen hat, versteht, warum ein Mann wie Tschingis Aitmatow überall in Kyrgysstan verehrt wird: Er war es, der diesen weit über das Land verstreut lebenden, ganz unterschiedlichen Menschen so etwas wie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelte. Er zeigte ihnen, dass sie Angehörige eines Volkes mit langer Tradition sind, das sich nichtsdestotrotz mit den Problemen am Ende des 2. Jahrtausends herumschlagen muss. Identität nennt man das.

Manchmal, mit etwas Glück, gibt es auf Reisen unter den vielen erinnerungswürdigen Momenten den einen unvergesslichen: Der Hirt, ein Mann in geplatzten Stiefeln, wattierter Hose und zerschlissener Jacke, das Gesicht ganz Fröhlichkeit und Lebenslust, hat uns abgeholt. Jetzt reiten wir, unter silbernem Mondlicht, einer Herde Yaks entgegen. Wir kreisen die schwarze, bewegte Masse ein und treiben sie für die Nacht in die Nähe der Jurten. Die Pferde traben vorsichtig über die federnde Steppe, nichts ist zu hören als das Knarren der Sättel und das Scharren der Hufe. Nur der Hund bellt manchmal, wenn sich eines der zottigen Rinder aus der Herde löst und drohend die langen Hörner senkt. Plötzlich beginnt der Hirt zu singen. Leise, aber ganz klar. Und Dshildis sagt, was wir alle denken: "Booz dscher Kyrgyzstan." Kyrgysstan - fremdes, schönes Land.

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