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Schneehühner mit Zwetschgendatschi

In Westgrönland wird der Tourismus zur wichtigen Einnahmequelle - und auch Gourmets entdecken neue Herausforderungen


Irgendetwas geht hier durcheinander: Die Rouladen im Topf sind zwar ordnungsgemäß mit Senf und Zwiebeln und Gurke und Speck gefüllt. Doch sie riechen, nicht wahr, Herr Küchenmeister, ein ganz klein wenig nach Tran? "Na klar", sagt Ingo Wolff, "schließlich stammt das Fleisch vom Seehund." Der schlaksige Mitvierziger aus Thüringen, der in Rodebay an der Disko-Bucht, 250 Kilometer nördlich des Polarkreises, seit drei Jahren das Restaurant "H 8" betreibt, liebt das kulinarische Crossover: Der Heilbutt verschwindet unter einer knusprigen Käsekruste. Auf die Schneehühner folgt frischer Zwetschgendatschi. Und vor dem Moschusochsengulasch geht die Platte mit deutscher Blut- und Leberwurst herum. Die Gäste, egal ob Grönländer oder Touristen, schätzen den Stilmix - so sehr, dass das sozialpädagogische Institut in Illulisat, dem 18 Kilometer entfernten Zentrum der Diskobucht, demnächst ein paar Praktikanten herschicken wird, damit sie zusehen, wie das geht: Rentiersteak mit Rosenkohl.

Rodebay, Oqaatsut auf Grönländisch, liegt in Westgrönland, auf jenem schmalen Streifen bewohnbarer Küste, der den riesigen Eisschild auf der größten Insel der Welt im Süden wie eine braungrüne Fassung umgibt. Rodebay - das ist die Rote Bucht, rot vom Blut der Wale, die die Holländer hier seit dem 17., die Dänen ab dem 18. und die Inuit wahrscheinlich schon viele Jahrhunderte davor auf die flachen Felsen gehievt haben.

Das passendste Gericht an diesem Ort scheint deshalb immer noch jenes große schwarzgraue Stück Fleisch zu sein, das glatt als Rheinischer Sauerbraten durchgehen würde - wüsste man nicht, dass es von dem 18 Meter langen Finnwal stammt, der vor ein paar Wochen hier an Land gezogen wurde. Noch immer erlegen grönländische Fischer zwischen 15 und 20 Finnwale pro Jahr, dazu diverse Schweins- und Zwergwale. Das Fleisch geht in heimische Töpfe, kein Stück davon darf ausgeführt werden, und auch "Greenpeace" hat inzwischen nach früheren lautstarken Protesten seinen Frieden mit diesem Zweig grönländischer Tradition geschlossen. "Trotzdem", sagt Stine Dudda, die Reiseführerin, "sollte man in einem Greenpeace-T-shirt nur dann durch einen grönländischen Hafen spazieren, wenn man ernsthafte Selbstmordabsichten hegt."

Ende der 60er Jahre noch ein quirliger Handelsposten, ist Rodebay heute ein Ort von nicht einmal mehr 50 Einwohnern. Und doch gibt es eine Schule für die 15 Kinder, eine Meerwasserentsalzungsanlage, einen Fußballplatz und einen Supermarkt, in dem "Men's Health" ausliegt und gefrorene Sparerips, Schrotflinten und Videos wie "American Pie" angeboten werden.

Zwei Dutzend ziegelroter, ultramarinblauer und dottergelber Holzhäuser liegen über die Felsen verstreut, rostige Abwasserrohre ziehen sich wie Adern über das Gestein, Wäsche trocknet knatternd im Wind. In den Kuhlen dazwischen sind die Hunde angekettet: Spitzohrige Wolfsgesichter, dicke Felle, buschige Schwänze, denen es bei 10 Grad Celsius viel zu warm ist. Manchmal klären sie schnappend offene Machtfragen, und wenn der Besitzer zur Fütterung anrückt, setzt ein vielstimmiges Jaulkonzert ein. Es sind keinen "Dänenhunde", wie die Tiere mancher Beamter abfällig genannt werden, die von ihren Besitzern mit "Arktis"-Futter verhätschelt werden. Diese Hunde leben nur von Fischabfällen - schließlich sollen sie nicht verfetten, ehe sie im Winter wieder zu zwölft oder mehr vor die Schlitten gespannt werden.

Der Ort wirkt seltsam menschenleer und das hat seinen Grund: Wenn während des Sommers an manchen Tagen Dutzende von Touristen das Dorf überschwemmen, ziehen sich die Einheimischen lieber zurück. Die Häuser sind zu. Die Menschen drin. Die Grenzen klar: Bitte nicht noch mehr stören.

Die meisten Boote, die in Rodebay Halt machen, sind auf dem Weg zum Eqi-Gletscher. Die Fahrt dahin gleicht der Reise durch eine Trümmerlandschaft. Wie Überreste der Bühnendekoration eines abgesetzten Märchenstücks treiben Eisberge im Meer: Alabasterburgen, die von innen bläulich leuchten, stumpfweiße Talgbrocken, zerknitterte Papierschiffe. Langsam ziehen sie nach Süden, acht Jahre werden die mächtigsten unter ihnen unterwegs sein, ehe sie irgendwann vor der Küste Neu-Englands endgültig im Salzwasser aufgehen.

Manchmal verdichtet sich das Eis, das Boot schiebt sich nur noch im Schritttempo knirschend und schabend voran, und endlich kommt der Gletscher in Sicht. Als wäre körniger Griesbrei im Überkochen erstarrt, presst er sich durch ein steinernes Tor ins Meer, fast zum Hinschwimmen nah und doch noch gute 10 Kilometer entfernt - nichts trügt in der reinen Luft Grönlands so sehr wie Entfernungen. Das Boot paradiert entlang der zerklüfteten weißen Wand. Möwen gieren in den Strudeln nach Krebsen, ab und zu donnert es wie fernes Geschützfeuer und wieder wurde irgendwo einer der mächtigen Klötze abgesprengt und kracht mit einer gewaltigen Schaumwelle im Wasser - rund 20 Millionen Tonnen drücken die Gletscher und der Eisfjord bei Illulisat täglich ins Meer, eine Masse, die geschmolzen den Wasserverbrauch New Yorks ein ganzes Jahr lang decken würde.

Das Eis ist das visuelle Wunder der Diskobucht. Und die Zahl der Touristen, die diesen erhabenen Anblick bestaunen möchten, wächst kontinuierlich: Um die 12 000 kletterten im vergangenen Jahr über die riesigen Geröllwälle der Seitenmoränen, betrachteten vom nahen Eqi-Camp aus das Spiel der Grau-Weiß-Blau-Schattierungen auf dem vielfach gefältelten, geriffelten und gefächerten Eis und verdünnten ihren Whisky mit einem gefrorenen Gruß der Erdgeschichte - zwischen fünf- und mehreren hunderttausend Jahren alt sind die Giganten in der Bucht.

Die Region kann zahlende Besucher gebrauchen. Denn nach wie vor ernähren die Menschen sich hauptsächlich von der Jagd und vom Fischfang - direkt für den Tisch oder durch die Arbeit auf Kuttern und in der Fischfabrik.
Im Hafen von Illulisat schaukeln die Boote. Männer in blauen Thermo-Overalls und Gummistiefeln, mit Walrossschnäuzern und schwarzem Bürstenhaar beködern Langleinen mit Tintenfisch. Es wird viel gelacht, warum, bleibt Fremden oft verschlossen. Auch Jesper Loevensen versteht die Sprache mit den kratzigen Kehllauten nicht. Der 27-jährige Däne kam vor drei Jahren nach Grönland, verliebte sich, kaufte ein Boot und begann als Fischer zu arbeiten - obwohl er es nie gelernt hatte. Trotzdem nahmen seine neuen Kollegen ihn freundlich auf und bringen ihm ohne Konkurrenzneid bei, wie man Robben schießt und harpuniert, Ordnung in ein Hundegespann bringt und von welchen Eisbergen man sich besser fernhält.

Das sauerstoffreiche Meer um Nordgrönland ist der ideale Platz für Garnelen und schwarzen Heilbutt. Noch gibt es reichlich Fisch. Doch die Exemplare werden kleiner, Heilbutt wächst langsam, zuviele werden weggefangen, ehe sie ihre endgültige Größe erreicht haben.

4500 Menschen leben in Illulisat, und es gibt, auch dank des Tourismus, keine Arbeitslosigkeit. Das war nicht immer so: In der Stadt stehen noch die großen Wohnblöcke, in die während der 70er Jahre Hunderte von Menschen aus Qutdligssat, einer aufgegebenen Kohlebergwerksiedlung umgesetzt wurden. Sie entwickelten sich zu Ghettos, in denen Suff, Verbrechen und die Selbstmordrate in die Höhe schnellten.
Überhaupt wurde selten ein Volk abrupter in die Zukunft katapultiert, behauptet Finn Siegstadt: "Innerhalb von dreißig Jahren aus der Torfhütte ins Internet". Der 29-jährige Ökonom, der fließend Dänisch, Englisch und Spanisch spricht, kommuniziert heute ganz selbstverständich von seinem Büro aus mit Tokio und New York. Richtig zuhause bei sich aber, sagt er, sei er erst wieder in zwei Wochen: Dann zieht er mit seiner Freundin für ein paar Tage im Boot in die Wildnis: Robben jagen, vielleicht ein Ren schießen, Beeren sammeln, Heilbutt angeln, wie sein Großvater es ihm beigebracht hat.

Im Winter, wenn die Bucht zufriert und das Versorgungsschiff "Irene Arctic" nicht mehr anlegen und die Regale im "Pisiffik"-Supermarkt auffüllen kann, ist Illulisat von der Versorgung abgeschnitten. Deshalb wird schon ab Spätsommer gehamstert; was der Helikopter später einfliegt, ist ungeheuer teuer.
Dann schlafen die Menschen lange, veranstalten wilde Hundeschlittenrennen übers Eis, und abends trifft man sich in der Bar auf ein paar Gespenstergeschichten: Die von den Nordlichtern etwa, bei denen es sich eigentlich um die Geister von Fußballspielern handelt, die während eines Matchs ums Leben kamen und dort oben immer noch ihrem Ball aus steingefüllter Seehundshaut hinterherflitzen. Spukgeschichten in arktischer Nacht - nichts schöner als das, sagt Finn Siegstadt, der Weltmann. Das neue Kino kann da gerade noch mithalten.

Im Museum von Illulisat finden sich Eisbohrer, Kajaks und langschäftige Messer zum Zerteilen der Wale. In einer Vitrine hängt die Nationaltracht, mit Stiefeln aus Seehundsfell und perlenbestickten Oberteilen. 20 000 bis 25 000 dänische Kronen kostet das traditionelle Outfit - und noch immer hat fast jedermann und jede Frau es zuhause.
Ein Extraraum aber ist Knud Rasmussen gewidmet, der hier im Haus 1879 geboren wurde. "Gebt mir Schnee, gebt mir Hunde, behaltet den Rest", hieß das plakative Lebensmotto des Polarforschers, dessen freches Jungengesicht frappierend an das Roman Polanskis erinnert. Er unternahm mehrere Expeditionen, legte mit seiner Sammlung die Grundlage der heutigen Eskimologie, sprach verschiedene Inuit-Dialekte und verstand sich auch ansonsten mit den Männern und Frauen am Rande des ewigen Eises recht gut: Noch heute, heißt es, laufen in vielen Inuit-Dörfern Menschen herum, die im Aussehen dem "süßen Knud" verblüffend ähneln.

Knud Rasmussen starb 1934. Ausgerechnet an einer grönländischen Köstlichkeit: Einem jener Vögel, die, zu Dutzenden in eine Robbe eingenäht, vergraben werden und dann drei bis vier Monate zu wahrer kulinarischer Größe heranreifen. Im Geschmack erinnern sie angeblich an Gorgonzola. Manchmal verderben sie freilich auch. Dann doch lieber Walsteak mit Thüringer Kartoffelklößen.

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