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Après-Ski im Caravan
Wintercamping im Sauerland, den holländischen Alpen


"Alle wollen in den Schnee", sagt Henk, der Holländer im blauen Overall mit dem gezwirbelten Schnauzer und dem rötlichem Gestrüpp auf dem Kopf. "Ich hasse Schnee. Aber Anja will skifahren." Anja ist zierlich, hat große schwarze Augen, viele schwarze Locken und eine Ur-Ur-Großmutter aus Surinam. "Willkommen in den holländischen Alpen!" lacht sie. "Uns Holländer hat in den letzten zehn Jahren das Skifieber gepackt. Aber wer hat schon Lust, dauernd nur abgedeckte Müllberge herunterzusausen."
Und deshalb sind sie hier. Im Campingpark Hochsauerland. Zum Wintercamping.

Wintercamping - ist das nicht jene Veranstaltung, bei der Naturburschen fortgeschrittenen Alters in Eislöchern planschen, Korn aus alten Senfgläsern trinken und sich mit Bärenpranken auf die Schultern hauen? Ihre Frauen heißen "Mutti", tragen wollene Unterhosen und kriegen auch auf dem Spirituskocher die Spiegeleier so hin, daß der Dotter nicht zerläuft. Ein Härtetest für wilde Kerle und patente "bessere Hälften" - ist das Wintercamping?

Vielleicht war es einmal so. Doch wenn der Deutsche Camping Club behauptet, daß die Übernachtungszahlen auf den Campingplätzen in Deutschland in diesem Winter auf rund 23 Millionen anstiegen und die Camper dabei 3,3 Milliarden Mark ausgeben würden, kann nicht mehr nur dieses Häufchen Unentwegter dahinterstecken. Soviele Naturburschen gibt es nicht im Land.

Wer sind die Wintercamper von heute? Womit verbringen sie ihre Tage? Was treibt sie ins frostige Lager? Antworten müßten sich im Sauerland finden lassen, dem "größten Wintersportgebiet nördlich der Mainlinie" mit dem "höchsten Berg Nordwestdeutschlands", dem Kahlen Asten, und ganz besonders in einem Städtchen, das "vom Wintersport lebt" und dessen Name angeblich gleich auch Programm ist: Winterberg.

Der "Campingpark Hochsauerland" liegt hinter einem Gewerbegebiet terassenförmig an einem sanft ansteigenden Hügel, in der Mitte durchtrennt vom Skilift "Rauher Busch". Er wurde 1990 fertiggestellt und hat 248 Stellplätze. 47 davon sind für Wintercamper, der Rest ist das ganze Jahr belegt.
Gleich hinter der Schranke die schmucklosen Kiesflächen für Wohnmobile. Darüber, in langen Reihen ausgerichtet, stehen die Caravans, mit und ohne Vorzelt oder Gartenhäuschen: kleine und große, alte und neue, einfache und luxuriöse Wagen. Unterscheidbar sind sie oft nur durch Details: ein hölzernes Namenschild, ein beleuchteter Schneemann, ein schmiedeeiserner Stiefelknecht. Die Zufahrtswege sind geräumt, der Schnee ist zu dicken Wällen geschoben.

Am Freitag abend kommt Leben in die Buden. Die Wagen der gehobenen Mittelklasse rollen an. Sie kommen aus Dortmund, Hagen, Essen, Wuppertal und Herne - und mindestens zur Hälfte aus Holland. Frauen schleppen Kartons aus Kofferräumen, Kinder ziehen schon mal mit dem Rodel los, Väter schippen den Weg zur Türe frei.
Es sind Familien und Paare, fast niemand unter dreißig, die Mehrzahl hat das Rentenalter erreicht.
"Gute Schneeverhältnisse in den Hochlagen des Sauerlands" - wer einen Wohnwagen hier stehen hat, für den klingt das wie ein Befehl. Spätnachmittags sind sie aufgebrochen, der Erschöpfung, dem Riskiko und dem stockenden Verkehr in den Dörfern an der B 480 zum Trotz. Sie müssen. Schließlich liegt Schnee.

"Skifahren - ich versteh' sie nicht". Henk schüttelt den Kopf. Die beiden stammen aus Enschede, kommen im Winter immer wieder mal für drei, vier Tage herüber. Wegen Anja. Henk sitzt derweil im Wohnmobil, betrachtet die Schlange am Lift und macht sich Gedanken. "Ich will nur weg aus Enschede. Und campen. Camping - das ist das Zugeständnis an den Nomaden in uns, sagt man so? Campen weckt unsere ältesten Instinkte - und wir werden ganz modern damit fertig. Wenn der Nomade von heute irgendwo rastet, muß er nicht mehr das Feuer anmachen und die Wölfe vertreiben, sondern sein Wohnmobil ordentlich einparken, den Strom verkabeln und die Satellitenschüssel ausrichten. Das Gefühl dabei ist aber sicher nicht anders."

Schon verstanden. Und er geht auch nicht mehr mit kleingeschnittenem Zeitungspapier hinter den nächsten Busch, sondern zieht sein Klo "Porta Potti" aus dem Unterschrank im hinteren Ende des "Alpha", wirft ein blaues Papierbeutelchen "Aqua KEM" in den Tank, vorsichtig, damit keine Spritzer auf die Hose kommen, denn die könnten Löcher in den Stoff ätzen, und macht es sich gemütlich.
"Sicher," sagt Henk. "Und gerade im Winter hat das der alten Methode einiges voraus." Dann schenkt er den ersten Genever ein, jenen holländischen Beitrag zum europäischen Frohsinn, der ein bißchen nach Kräutern schmeckt, und ein bißchen nach kommendem Unheil.

Samstagmorgens um halb neun erwacht der Campingplatz. Mit trockenem Reizhusten, Kaffeeduft und Gestalten, die in Holzschuhen zur Dusche schlurfen. Eine halbe Stunde später beginnt der Skilift sein Tagwerk. Er angelt sich Menschen, immer zwei Stück an jedem baumelnden Haken, und schüttelt sie 600 Meter weiter oben wieder ab.

Hundertschaften strömen inzwischen aus Autos und Bussen und poltern in ihren klobigen Schuhen über die Teerstraße zum Lift, wie eine Herde Kaltblütler, die frisch beschlagen vom Dorfschmied kommt. Auch die meisten Camper stehen inzwischen in der Schlange, die bis zum Abend nicht mehr kürzer als zehn Meter wird. Endlich im Schnee!

Der "Rauhe Busch" ist ein sanfter Hang. Hier übt man Stemmbögen und Pflugfahren und auch die Sechzehnjährigen, die auf breiten Brettern nach unten holpern, wollen erst richtige Snowboardfahrer werden. Das optische Styling aber stimmt - der Schneeanzug macht jeden Hänfling zum Strammen Max. Freilich haben die Skimodedesigner des Guten längst zuviel getan. Wenn alle Kunden gleich neonbunt, gleich glitzernd, gleich grell ausstaffiert sind, hat niemand mehr die Chance, sich abzuheben. Die einzige Chance, eine ausgebeulte Keilhose mit verblaßtem Baumwollanorak, wagt niemand auch nur zu denken.

32 Mark kostet die Tageskarte, die zur Fahrt an insgesamt zwölf Liften in der Gegend berechtigt. Anja ist den ganze Tag nicht zu sehen. Henk schlendert gegen Mittag zum Imbiß hinüber und holt sich einen "Manta-Teller Bo ey": Curry-Pommes-Mayo" für 5.50. Auch "Holländische Fleischkroketten" stehen auf der Tafel - Hollands Rache für Harald Schmidt.

In der "Gaststube" am Lift dringen nur die Stärksten zum Zapfhahn vor. Aus dem Lautsprecher dröhnen "Zehn kleine Jägermeister", im Raum stehen, sitzen, drängeln müde Skihelden und ermattete Skidamen dicht an dicht. Schweißverklebte Haare, leuchtende Augen, kältebleiche Gesichter, die sich nach dem ersten Glühwein röten. Nach dem zweiten beginnen sie zu glänzen. Man spricht holländisch, und zwar fast nur.
Ist es das, was alle Wintercamper suchen?

"Ich brauche das nicht", sagt Hans Rinke knapp, "ich halte mich da fern". 36 Jahre hat der Mann mit dem kantigen Kopf und den blauen Augen unter Tage gearbeitet, Nachtschicht, und das hat ihn vielleicht etwas wortkarg gemacht. Heute ist er Rentner.
Er und seine Frau Waltraud sind seit fünf Jahren Dauermieter und haben sich in dieser Zeit ein richtiges Anwesen geschaffen: Vor den Caravan, "Fendt Diamant - 42000 Mark", haben sie für neuneinhalbtausend eine Hütte hinstellen lassen. Jetzt verfügen sie über Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Dusche - alles sehr geräumig, alles gediegen in Holz ausgebaut. Seit Anfang November wohnt Hans mit wenigen Unterbrechungen hier und frönt seinem ganz persönlichen Luxus: Zeit und Ungebundenheit. Um sechs steht er auf, holt Brötchen bei "Kaiser's", duscht und frühstückt. Dann stapft er los. Auf den "Hohen Knochen" oder den "Hohen Knacken", Richtung Silbach oder Altastenberg, quer durch den Naturpark Rothaargebirge. Bonnie, der sandfarbene Labrador, immer vornweg. Jeden Tag gönnen sie sich einen Marsch von zwanzig, dreißig Kilometer, spätestens Viertel vor sieben sind sie zurück: "RTL-aktuell" verpflichtet.
Waltraud arbeitet noch. Sie kommt am Freitag die 170 Kilometer von Mörs herüber, bringt Vorgekochtes für die Woche, das sich im Schnee so gut hält, und wandert mit durchs Sauerland.

Während der Woche wohnen oft nur zehn, zwölf Leute auf dem Platz. Rückt man da nicht näher zusammen? Kaffeetrinken am Nachmittag, oder die Sache mit dem Korn aus alten Senfgläsern? "Man grüßt sich", sagt Hans Rinke. "Mehr will eigentlich niemand vom andern." Dann muß er Kartoffeln schälen. Zum Abendessen gibt es Grünkohl mit Bregenwurst.

Bei Udo Dethmers kommt Nudelauflauf auf den Tisch. "Wenn meine Frau im Wohnwagen kocht, schmeckt es mir einfach besser", sagt Udo, der lange, früh ergraute Schlaks. Warum? "Es schmeckt einfach besser." Basta.
Udo Dethmers, 45, Müllwerker aus Coesfeldt, ist Mann der ersten Stunde im Campingpark Hochsauerland. Um seinen Wohnwagen hat er einen Bretterzaun gezogen, dahinter eine Trauerweide gepflanzt und eine kleine Thujahecke angelegt. Im Sommer hat es sicher was von Schrebergarten, jetzt erinnert es an Friedhof.
An Wochenenden kassiert Udo von den Tagesgästen Parkgebühren, seine Arbeitsstunden werden mit den Kosten für den Stellplatz verrechnet. Udo liebt Sylvester auf dem Campingplatz, noch mehr aber Karneval, wenn die Holländer "Krokusferien" haben und jeder Winkel belegt ist und "Am Rosenmontag ist alles vorbei" aus dem Lautsprecher schallt und die Stimmung draußen so hochkocht wie der Glühwein, den er auf einer Tonne die ganze Nacht heiß hält.
An der ruhigeren Wochenenden wie jetzt geht Udo mit seiner Frau tanzen ins "Cafe Möhrchen" in Winterberg. Und Stammgäste nimmt er Samstag abends auch schon mal mit auf ein Bier "Onkel Hugos Hütte".

Winterberg ist das, was man einen "modernen Wintersportort" nennt: eine propere, gut bestückte Abfütterungs- und Einkleidemeile für Schneehungrige. Es gibt eine Bobbahn und die St.-Georgs-Sprungschanze, im Fenster des Fotogeschäfts hängen Bilder von Jana Bode, der Winterberger Weltmeisterin im Rennrodeln 1996, die Häuser im Zentrum sind mit schwarzgrauem Schiefer bekleidet - selbst "Woolworth" breitet seine Schnäppchen hinter einer Fassade aus Schiefer aus.

"Onkel Hugos Hütte" heißt offiziell "Die Bierhalle". Sie öffnet frühestens ab 21 Uhr, ist nur über eine verborgene Treppe zu erreichen - und ein Kleinod deutschen Gaststättenwesens.
Ein Kachelofen heizt den niedrigen Raum mit den braunen, pergamentenen Tapeten. Unter der holzgefaßten Vitrine auf der Theke steht ein Glas mit Soleiern, die Musikbox dudelt "Wir kaufen uns ein Häuschen irgendwo in Kanada", und das Spiel am fünf Meter langen Kegelbahnautomat kostet 50 Pfennig pro Person. Gebürtige Winterberger erkennt man daran, daß sie, fast ohne hinzusehen, alle Neune abräumen. "Noch so'n kleines Leckerchen?" fragt Brigitte, die Wirtin. Und meint den öligen Doppelwacholder. Noch so'n Leckerchen, Brigitte. Und ein' auf'n Weg, einen Kilometer durch die Nacht!

Das Geräusch auf dem Wagendach am Sonntagmorgen hört sich an wie das Trippeln vieler Vögel. Es ist Regen. Ein Tag beginnt, so ganz nach Henks Geschmack: Gibt es doch nichts Schöneres für einen Schneehasser, als zuzusehen, wie sich eine Skipiste langsam in Dreck und Nichts verwandelt. "Dont't worry, be happy", pünktlich setzt der musikalische Beistand ein. Die Bahn ist nur noch triefendes Eis, an den Rändern zum Wald klebt der Schnee wie angequollenes Sülzenpulver.
Anja zieht trotzdem los, die Schlange am Lift ist auch schon wieder zehn Meter lang. "Unverdrossen" wirken sie allerdings nicht, eher zum Pflugbogen verdonnert: "Wir sind, verdammt nochmal, zum Vergnügen hier!" Eine halbe Stunde später erinnern alle, die herumstehen oder -fahren, an eingeweichte bunte Pudel - das Bedürfnis, auf Brettern von irgendwo oben nach irgendwo unten zu rutschen, scheint in manchen Menschen sehr tief verwurzelt zu sein. Die anderen bleiben seltsam ratlos zurück.

Es ist der richtige Morgen, ein paar immer noch offene Fragen zu klären: Wie kommt es etwa, daß soviele Holländer im Sauerland unterwegs sind, daß man befürchten muß, in den Niederlanden selbst gar keinen mehr anzutreffen?
"Ist doch klar", lacht Gert Wesseloo: "wenn wir einmal aufs Gaspedal drücken, sind wir über der Grenze." Er und seine Frau Geurtje, 66 sie, er drei Jahre älter, sind zuhause in Arnhem und echte Wintercamper. 1190 Mark zahlen sie, um ihren Wohnwagen vom 1. Oktober bis zum 30. April auf dem Platz stehenlassen zu dürfen. "Ein TEC - WB 425 TS Miami. Fünf Meter lang, fünf Jahre alt, 22 000 Gulden teuer, Doppelglas." Geheizt wird mit Gas, die Elf-Kilo-Flasche reicht für fünf Tage, wenn es sehr kalt ist, und kostet 23.50 Mark. "Minus 15 Grad? Kein Problem. Wir kommen hier drin auf über 20 plus." Tagsüber sind sie mit Skiern unterwegs, mal hoch den Hang, mal auf die Loipe, ihre gesunde Gesichtsfarbe spricht für sich. "Wir sind hier gelandet, weil der Lift direkt am Platz liegt", sagt Gert, der ehemalige Polizist. "Und weil die Luft so gut ist", ergänzt Geurtje und schiebt mehr braune Baiserringe rüber: "Noch paar lekker Moccaschuim Kuche?"

Ein Sonntag in Nebel und Regen. Am frühen Nachmittag packen die ersten und fahren ab. Henk und Anja haben noch eine gesellschaftliche Verpflichtung in Winterberg. In der Bierstube des "Vakantiehotel - Der Brabander" hat "zanger & entertainer Henny Duchéé" seinen Auftritt. Das ganze noch verbliebene Sauerland-Holland, um die achtzig Leute, trinkt, tanzt und singt laut, fröhlich und falsch. Es gibt keine Bühne, Henny, ein Paradeschwiegersohn, steht mit dem drahtlosen Mikro mitten unter den Seinen. Bier fließt, bezahlt wird mit "Muntjes", Wertmarken, die man am Eingang kauft, 1.25 Mark das Stück. "Mir ist am liebste, man nimmt gleich zwanzig", sagt der Besitzer in schönstem Rudi-Carell. "Die übriggebliebene kann man zurückgebe, aber wer macht das schon." Drei Plastikscheiben kostet das Bier, vier die Erbsensupe, zwei der Genever.

Die Biertische erzittern von den Bässen, die erste Polonaise zieht los, Anja mittendrin. "Ich versteh sie nicht", sagt Henk. Ein Hüne mit Seppelhut zieht sein Mädchen auf einem Schlitten durch den Saal und dann galoppieren die ersten fünf Mann mit einer Bank auf die Tanzfläche.
Henny singt und klatscht "Down by de Waterkant" und schiebt "leve de apriski" in den CD-Player, es geht um die Alpen, es wird gejodelt und auf Holländisch gejuchzt - Friesland, Sauerland, Alpenland, ist egal, ist alles eins, Hauptsache Schnee, Hauptsache laut, Hauptsache schnell - die Busse nach Alkmaar und Nijmegen warten schon.

Sonntag abend um sieben herrscht Totenstille auf dem Campingpark Hochsauerland. Der Lift steht seit 17 Uhr, die "Fiesta Mexicana" ist verstummt, die Wagen aus Dortmund, Hagen, Essen, Wuppertal, Herne und Holland stehen schon alle irgendwo im Stau.
Zehn, zwölf Lichter brennen noch, verstreut auf dem weiten Hang. Hans Rinke pfeift, "komm, Bonnie, letzte Runde", Wesseloos bauen ein Scrabblespiel auf, Henk und Anita haben die Rollos ihres "Alpha" vorgezogen.
Jetzt sind sie wieder unter sich. Jeder für sich, wie es ihnen am liebsten ist. Und doch ist ihnen heute abend ein Gedanke gemeinsam: der an große, schwere Flocken. Ganz sacht sollte es jetzt zu schneien beginnen. Wünschen sie. Nur einer nicht.

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