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Schwitzen für den Frieden
Beim Powwow der Micmacs in Neufundland


Von wegen: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Der junge Mann zur Linken mit dem glatten schwarzen Haar versucht alle paar Minuten stöhnend, seine Beine anders zu ordnen. Der athletische Mitfünfziger auf der anderen Seite, dessen Knie sich in den Rücken des Vordermannes bohren, ächzt bei jedem neuen Wasserschwall auf die heißen Steine, und dies bestimmt nicht aus Lust. Es ist brennend heiß und stockdunkel, wie im tiefen Inneren der Erde, und wir alle leiden. Nun, nichts anderes hatte uns Mike, der Zeremonienmeister, versprochen, als wir uns in die Sweat-Lodge, die Schwitzhütte quetschten: Sechs Männer in Shorts, neun Frauen in langen Röcken und T-shirts, zwischen 20 und 70 Jahren, in Conne River und anderswo in Canada zuhause, sitzen dicht an dicht rund um das Erdloch mit den glühenden Steinen, in einem Iglu aus Plastikplane und Fellen, etwa zweieinhalb Meter im Durchmesser: Entspannte Saunastimmung kommt hier ganz bestimmt nicht auf.

"Ihr werdet mich anflehen, aufzuhören. Ihr werdet aus der Hütte kriechen. Ihr werdet Euern Stolz und Euer aufgeblähtes Selbstbewusstsein ablegen", hatte der bullige Mann mit dem Walrossschnauzbahrt und den rasierten Schläfen gleich zu Beginn gedroht. "Ihr werdet leiden, und euch klarmachen, dass dieses Leiden gering ist, gemessen am Unrecht, das in der Welt passiert." Bei den Tänzen am Nachmittag hatte Mike in seiner cremefarbenen Lederkluft und einer Kopfschleppe aus Adlerfedern alle Blicke auf sich gezogen, hatte Werbung für die handgenähten Eisbärenquilts seiner Mutter gemacht, und, ganz unermüdlicher Animateur, immer wieder Kinder wie Erwachsene von den Sitzen geholt.

Der jetzt die Zeremonie leitet ist ein anderer Mann: Konzentriert, zurückgenommen beschwört er Großväter und -mütter in Wasser und Feuer, betet in unverständlichem Singsang, lässt die Pfeife herumgehen und streut auf die Steine Kräuter, die aufglühen und vergehen wie sterbende Sterne.
Dann spricht er über die Kinder dieser Welt. Beschwört das Unrecht, das ihnen angetan wird: Missbrauch, Krieg, Hunger, Gewalt und fordert uns auf, ein paar persönliche Worte zu sagen, im Kreis herum, dem Alter nach, wie wir auch in die Hütte eingewiesen wurden. Die Männer aus dem Dorf sprechen stockend von Enkeln, die Drogen nehmen und nicht mehr auf die Eltern hören, die Gäste wünschen magersüchtigen, alleingelassenen und krebskranken Kindern Heilung und Frieden. Die meisten klingen glaubhaft in ihren persönlichen, Anliegen, zwei, drei agieren larmoyant für eine nicht vorhandene Galerie. Mike bekräftigt jedes Statement mit einem teilnehmenden: "Eeh! Eeh!". Und einem kräftigen Guss auf den Stein.
Eine Stunde dauert diese erste Runde, wobei, zugegebenermaßen, die Konzentration bald nachlässt und dem Wunsch Platz macht, manche Dame möchte ihr Bekenntnis, wie sehr sie jetzt "mit ganzem Herzen, Seele und Körper" bei der Sache sei, nicht ganz so breit treten. Wenn die Muskeln krampfen, fällt Empathie nicht mehr so leicht. Aber wir fangen ja erst an.

Endlich lässt Mike die Luke öffnen. Wir sind verspannt, nachtblind und kriechen, um nicht auf die knackenden Steine zu tapsen, dampfend hinaus: Ganz wie anfangs versprochen. Tiefes Durchatmen. Nachtwind. Und der Sternenhimmel von Neufundland über uns.

Mittags waren wir von Gander aus mit dem Wagen in drei Stunden an die Südküste heruntergefahren, durch eine menschenleere, von vielarmigen Flüssen durchzogene Wald- und Tundralandschaft - Karibu-Land: Immer wieder waren ein paar dieser nordmaerikanischen Rentierverwandten gemächlich über die Straße getrottet.

An der Zufahrt zum Parkplatz hatte ein Junge im blauen Overall uns und das Innere unseres Autos sorgfältig gemustert: Ja doch, Kontrolle! Alkohol und Drogen sind beim Pow Wow der Micmac strikt verboten, wer sich nicht daran hält, fliegt unerbittlich raus, egal ob Gasttänzer, Dorfbewohner oder Besucher.

Ein großer Sportplatz. "Intertribal time", verkündet der Moderator gerade über Lautsprecher. "Everybody dance. 'Bluestone Creek', go ahead!" Verhalten beginnt eine Gruppe junger Männer unter einem bunten Zeltdach zu trommeln. Dann wird sie lauter, fällt mit den Stimmen ein: Ein helles, jagendes Stakkato wilder Kehllaute. Etwa 50 Tänzerinnen und Tänzer haben in einem abgesteckten Kreis rund um das Zelt Aufstellung genommen. Jeder darf teilnehmen. Rotgelockte Kinder und junge Männer mit schwarzem Pferdeschwanz fassen sich an der Hand, Frauen mit erdbrauner Haut und blauäugige Weißhaarige heben an zu einer Art fröhlicher Ringelreihen: Spaß und Lachen für alle.

Die Mehrzahl trägt Jeans, Röcke, Basecaps, T-shirts. Einige wenige haben ihre prächtige Tracht angelegt: Weiße Kleider mit Rüschen und silbernen Beschlägen, Umhänge aus geschmeidigem, rotbraunem Leder, Pelzbesätze und Fransen und beeindruckende Federkronen. Bis aus Nove Scotia und New Brunswick sind sie angereist: Seit Pow Wows auch unter kanadischen Stämmen wieder aufgelebt sind, opfern viele ihre Wochenenden und fahren von Veranstaltung zu Veranstaltung.

Das Pow Wow von Conne River ist erst sechs Jahre alt. Und es ist eher Dorffest als weithin bekanntes Spektakel: Gerade mal eine Handvoll Buden säumt den Platz: Mit dem Betrag, den sie zahlen, um Hotdogs, Zuckerwatte, Türkisringe oder ziemlich kitschige Porträts edler Indianer verkaufen zu dürfen, finanziert das Dorf die Organsisation. Und lediglich eine Gruppe Schweizer mischt sich als Touristen unter die Kanadier.

Sie tanzen den ganzen Nachmittag: "Sidestep", "Sneakup", "Crow-Hop". Immer im Uhrzeigersinn um das Zelt. Mal sind es einfache, zögernde Schritte vorwärts, mal suchen die jungen Männer mit Sprüngen und Drehungen nach einem unsichtbaren Feind. Bitterernst geht es dabei nicht zu: "Joe hat uns gerade auf einen Adler aufmerksam gemacht", verkündet der Moderator. Und, als der Vogel ganz in der Nähe vorbeistreicht: "Na, wenn nicht einmal die Ureinwohner mehr einen Falken von einem Adler unterscheiden können, ist das Ende der Tage wohl nicht mehr weit!"
Beim "Womens dance" sind Kameras verboten, die jungen Männer recken eine Faust. Beim "Indian breakdance" treten Kinder gegeneinander an. Dann wieder lässt Mike heimlich einen markierten Stein auf dem Platz fallen, wer ihm am nächsten steht, wenn die Musik endet, erhält zwanzig Dollar. Es ist eine bunte Mischung aus Spaß, Show und ernstgemeinten traditionellen Tänzen, unaufgeregt und unprätentiös. Die Musik aber, dieser auf- und abschwellende spitze Gesang der Kopfstimmen, untermalt vom dumpfen Rhythmus der Trommeln, entwickelt im Lauf der Zeit einen höchst eigenartigen Sog, auch wenn der Besucher den Wortlaut nicht versteht.

In der Schwitzhütte liegt mittlerweile die zweite Runde hinter uns. Sie war den Frauen gewidmet. Einige von uns, sagt Mike, haben vielleicht die Kraft, Krankheiten zu heilen. Wir vereinigen unsere Stärke, meditieren gemeinsam, jeder spricht sein eigenes Gebet. Sanftes Murmeln hebt an und nimmt zu, je mehr Wasser Mike auf die neu erhitzten Steine gießt. Heißer als jede Sauna wird es allmählich, die Haut beginnt zu glühen, das Murmeln wandelt sich zu Seufzen, wir ducken uns in Erwartung des nächsten atemraubenden Dampfschwalls, wie ein Fluchen und Flehen klingt der Chor der Stimmen - und endlich schreit eine Frau auf: "Stopp, hört auf, ich verbrenne!" Und endlich lässt Mike die Luke öffnen und einen Krug mit Wasser herumgehen.

Gegen sechs hatte der Moderator das Abendessen angekündigt, "Ältere zuerst, denkt daran!" Das Pow Wow kostet keinen Eintritt, und auch das Essen ist frei. Die Schlange der Besucherinnen und Besucher zieht an langen Tischen vorbei. Conne River tischt auf, scharfzüngige Frauen und eifrige junge Männer laden die Pappteller voll: Gemüsesuppe, Kartoffelauflauf, Nudelsalat, Elchbraten, Hühnerschenkel, Schweinespeck, Karibugulasch, dazu Apfel- oder Orangensaft. Und zum Nachtisch Partridgeberry-Kuchen. "Meine Nachbarin backt die", erklärt eine resolute Verteilerin. "Dieses Jahr waren es 45 Stück. Nächstes Jahr legt sie sicher wieder zehn Prozent zu."

"Der Inhalt eines Pow Wow", hatte Misele Joe erklärt, Häuptling und Bürgermeister von Conne River, "ist Begegnung und Erinnerung an unser kulturelles Erbe. Der tiefere Sinn ist, zu teilen. So drücken wir unsere Dankbarkeit aus für das, was wir erreicht haben."

Conne River hat Grund, zufrieden zu sein. Dem 780 Einwohner zählenden Reservat geht es gut: Breite Straßen, nagelneue, weißgestrichene Häuser, eine große Versammlungshalle, eine Kirche - das Dorf gilt in Neufundland als Ausnahmefall. Davor aber liegt eine lange Geschichte: Der Großteil der Micmac kam um 1760 von Nova Scotia nach Neufundland. "Angeblich wurden sie von den englischen Kolonisten geholt, um die einheimischen Beothuk auszurotten - so stand es noch bis in die achtziger Jahre in unseren Schulbüchern", sagt Gerard Joe, der Gemeindevertreter für Wirtschaftsfragen. "Dafür gibt es keinen einzigen Beweis. Aber man fühlt sich sehr klein, wenn man mit dem Gefühl aufwächst, zu einem Volk von bezahlten Mördern zu gehören."

Tatsache ist, dass die Micmac einigermaßen mit den Weißen zurechtkamen. Sie lernten ihre Sprache, verdingten sich als Kundschafter, übernahmen ihre Kleidung und auch die Religion: Römisch-katholisch sind sie heute noch.

1846 wurde das Reservat gegründet. Das Leben dort war elend wie in allen Reservaten. Erst in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts erwachte das Selbstbewusstsein der "First Nations" auch in Conne River. Es gab mehr Geld vom Staat, "aber wir haben von Anfang an nicht auf Wohlfahrt gesetzt, sondern auf wirtschaftliche Entwicklung", sagt Misele Joe.
Der 54 Jahre alte, grauhaarige Chief ist das, was man einen "charismatischen Führer" nennt: Intelligent, humorvoll, überlegt und warmherzig, dabei von natürlicher Autorität. Ein Gespräch? Aber bitte. In aller Ruhe verabschiedet er sich von einer jungen Mutter, bittet ohne Umstände in eines der drei leeren Tipis, in denen die Gäste des Pow Wow übernachten können. Und erzählt von Erfolgen.

Das Band Council, die Dorfverwaltung, hat die Subventionen der Regierung klug investiert: Heute hat das Reservat eine Weihnachtsbaumplantage und eine Helikopter-Chartergesellschaft. Es betreibt die größte Lachszucht der Region, ein Schullandheim, ein Jagd- und Sportfischercamp, eine Baufirma, den Supermarkt und einen Laden mit Mokassins, Trommeln und Klanghölzern.
Wer will, kann studieren, oder, auch in späteren Jahren, eine Ausbildung machen. Er wird finanziell von der Gemeinde unterstützt - muss sich aber verpflichten, nach dem Abschluss in sein Dorf zurückzukehren.

Was macht den Unterschied zu anderen Reservaten aus, in denen es oft immer noch sehr kläglich zugeht? "Wir erarten von jedem, der arbeiten kann, dass er auch arbeitet. Und wir stellen die Arbeitsplätze zur Verfügung." Eben mussten sie ein unrentables Sägewerk schließen. Die Holzarbeiter kamen in einem neuen Projekt unter: Dem Jipuijkuei Kuespem Kulturpark. Dort legen sie einen Bohlenweg an, bauen Birkenkanus und Rindentipis, wie früher üblich nur mit Fichtenwurzeln vrbunden. Eine Fotowand wird die Geschichte der Micmac zeigen, ein Campingplatz ist in die Wälder integriert: Erste, vorsichtige Schritte in Richtung Tourismus.

Dass es nicht zu schnell geht, dafür sorgen die Dorfbewohner. Ein Hotel auf dem Sportplatz? Nichts da, entschied die Einwohnerversammlung, auf der einmal im Jahr jeder Gemeindevertreter seine Arbeit verteidigen muss. Auch das Pow Wow war anfangs heftig umstritten. Heute stehen fast alle dahinter.

Der Abend in der Schwitzhütte geht nach vier Stunden langsam seinem Ende entgegen. Noch einmal beschwört Mike den Weißen Elch und den Weißen Adler, erzählt, wie er seit vierzehn Jahre daran arbeite, ein guter Zeremonienmeister zu werden, warnt vor Scharlatanen in den USA und Europa, die viel Geld mit Sweat Lodges machen - in Conne River ist die Teilnahme frei -, und beschwört uns, nie vor Schwierigkeiten im Leben davonzulaufen: Ein langer Monolog aus Religion, Mystik, praktischer Lebensphilosophie und Selbstdarstellung. Dann entlässt er uns.

Draußen läuft ein Generator. Flutlicht beleuchtet den Platz. Junge Männer mit Decken über den Schultern sitzen an Feuern und stochern in der Glut. Sie werden die ganze Nacht über die Sicherheit ihrer Gäste wachen.
Wir sind erschöpft und fühlen uns seltsam zufrieden. Wir hatten keine Vision und glauben nicht, dass heute nacht spontan jemand von einer Krankheit geheilt wurde. Aber wir sind berührt. Und wir empfinden Achtung. Große Achtung vor Leuten, die mit beiden Beinen in der Gegenwart stehen. Und dennoch versuchen, von ihrem geistigen Erbe zu retten, was noch zu retten ist.

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