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Jean-Marie Dumaine: Der Wildpflanzenkoch von der Ahr

Ein Hauch von Mädesüß und Quendel
In Sinzig an der Ahr verwandelt Jean-Marie Dumaine Wildpflanzen in kulinarische Offenbarungen


Aperitif:
Sekt mit Holunderblüten-Nektar

Die Pestwurz macht noch Probleme. Sie lässt sich schälen wie Rhabarber, riecht ein bisschen bitter, ein bisschen blumig, nach Weihrauch und Lavendel, wächst dicht an dicht in den Auen der Ahr - eigentlich ideale Voraussetzungen für eine Karriere in der Küche des "Vieux Sinzig". Aber wie gesagt: Noch sträubt die Pestwurz sich. Seit zwei Jahren arbeitet Jean-Marie Dumaine sich an der Pestwurz ab: Soll man die großen Blätter häckseln, pürieren, dünsten oder trocknen? Geht was mit Muskat und braunem Zucker? Taugen die Stiele eher zum Rösten und Mahlen, oder wollen sie fritiert und eingelegt werden? Könnte sich eine Essenz, ein Püree, ein Pesto daraus zaubern lassen?
Jean-Marie Dumaine weiß es noch nicht. Und er weiß doch in so vielen vergleichbaren Fällen Bescheid. Rund 15 000 essbare Wildpflanzen gibt es in Europa, etwa 1700 wachsen im Gebiet der "Goldenen Meile", dem Mündungsbereich der Ahr. Fast 200 davon kennt er. Etwa die Hälfte verarbeitet er regelmäßig in seinem Restaurant.

Entree I:
Les trois crémes brulées: Brennessel, Löwenzahn und Sauerampfer mit Meerrettich gratiniert

"Die Natur ist ein Tresor mit vielen Kammern und Türen. Und ich als Koch habe die Schlüssel, sie nach und nach zu öffnen." Ein schöner Satz, ein denkwürdiger Satz. Gern sagt der kleine Mann mit den blauen Augen und dem genießerisch gespitzten Mund solche Sätze, blickt ihnen versonnen hinterher und lächelt pfiffig, wenn er sieht, wie sie einsickern in die Köpfe seiner 30 Zuhörer. Dann wieder stürmt er, einem gallischen Mister Bean nicht unähnlich, urplötzlich los ins Gebüsch, rumort unsichtbar darin herum und taucht mit einer Handvoll Stängel wieder auf. "Mein absoluter Liebling - der japanische Knöterich." `Rhein-Rhabarber` hat er ihn getauft und mit gleich zehn Rezepten geadelt: Als Roulade und Lasagne, in Muffins und im Knuspermantel finden jedes Jahr 200 Kilo des sperrigen Wildgemüses ihren Weg in experimentierfreudige Feinschmeckermägen. Und das ist noch nicht alles: Die Stiele lassen sich spalten, als Einweggeschirr für Krabbenfarce oder Wegwarten-Creme. Und als Blumenvasen taugen sie auch.
Zwei Stunden dauert die Kräuterwanderung in den Ahr-Auen und erschließt den Teilnehmern verblüffende Erkenntnisse: Mädesüß riecht wie ein Persipanhörnchen und taugt für eine Mousse mit Mandelgeschmack. Die lanzettenförmigen Blätter des Beinwell lassen sich mit Seezunge füllen und im Crepeteig fritieren. Weißdornblüten, die nach verdorbenem Fisch - nein, nicht stinken, sondern "stark riechen", intensivieren den Geschmack der Soße zur Scholle. Der "Wildpflanzenpapst" ist gern hier draußen mit Menschen unterwegs. Aber er gehorcht auch der Notwendigkeit: "Wenn isch aufhöre zu kommunizieren über die Natüür", befindet er in wohlgepflegtem Asterix-Deutsch, "versteht man meine Küche nicht mehr."

Entree II:
Roquefort-Joghurtcreme auf Lammcarpaccio mit Scharbockskraut -Tempura

Und dann sind da auch noch diese grünen Stengel, leicht mit Wiesenkerbel zu verwechseln. Tut man das, wissentlich oder per Zufall, stirbt jemand eines qualvollen Todes - so wie die hübsche Weinkönigin in Carsten Sebastian Henns kulinarischem Ahr-Krimi "In dubio pro vino". "Aber Kerbel hat Kerben", predigt Dumaine. "Der andere, der Schierling, ist lila gefleckt. Darum immer merken: Wenn fleckig, gehts dreckig!" Auch im Krimi hatte der Mörder sich sein Wissen bei einer Kräuterwanderung angeeignet. Mit Antoine Careme, alias Jean-Marie Dumaine: "Wir sind die lebende Akteurrr!"

Les poissons:
Gebratene Lotte auf Löwenzahn-Créme mit -Chips, -Chutney und - Karamell

Ein Normanne, geboren 1954 auf einem Bauernhof in Vire, lernt in Granville Koch und kommt 1975 nach Deutschland. Schon vier Jahre später hat er in Sinzig sein eigenes Restaurant, französische Küche, die Klassiker. Von Anfang an aber treibt ihn die Suche nach Profil und persönlicher Handschrift um. Vor der Haustür, im warmen Mikroklima der Ahrmündung, wachsen Hunderte unbekannter Pflanzen. Und nach und nach findet die eine oder andere ihren Weg als bunter Tupfer auf Dumaines Speisekarte. Literatur gibt es keine, Pioniere sind rar. Immerhin: In Languiole im französischen Zentralmassiv schmort und dünstet Michel Bras Hirtentäschel und Taubnessel. Das Praktikum bei ihm weitet den Blick. Und führt weiter zu Francois Couplan, Ethnobotaniker, dem Mann, der um die Welt reist auf der Suche nach Material zu seiner Enzyklopädie menschlicher Nährpflanzen.
Nun hat Jean-Marie endgültig Feuer gefangen. Bachbunge, Bärlauch und Barbarakraut werden zu seiner Leidenschaft. Colette, seine Frau, ist stets dabei, wenn es ums Blanchieren, Fermentieren, Auspressen geht - oder um irgendein anderes Verfahren, der Kornelkirsche und dem Natternkopf unverwechselbaren Geschmack abzugewinnen. Man lernt durch Versuch und Irrtum, erntet im kleinen Kreis so viel ratloses Kopfschütteln wie glückliches Schmatzen.

Les viandes:
Rehrücken im Schwarzbrotmantel und Broccolini

Wie schmeckt Löwenzahn, Maitre Dumaine? "Von der Konsistenz her recht saftig und leicht elastisch. Im Geschmack eher bitter, etwas süßlich" - wie beispielsweise...? "Wie Löwenzahn".
Das ist die Crux und auch die Chance: Wildpflanzen haben wenig Referenzgeschmäcker. Fast alle Vergleiche bleiben Krücken, man muss kosten, um zu wissen: Wie knusprig-salzig das fritierte Scharbockskraut zwischen den Zähnen birst. Wie sich Koriander und Beifuß am Reh höchst eigen mischen - ja, nun: höchst eigen. Und wie das Veilchensorbet in seiner parfümierten Fülle am Gaumen geradezu explodiert. Mal bilden Wiesenschaumkraut-Senf und Spitzwegerich-Knospen nur Geschmackstupfer, mal kommt Giersch, die Geißel aller Hobbygärtner, als komplette Gemüse-Beilage daher, dann wieder taucht das Honig-Aroma der Quendelsoße den Lammrücken in eine ganz neue Geschmacksfarbe. "Wildpflanzen sind extrem wild. Man muss sie zähmen." Und man darf dabei seine Gäste nicht überfordern. Denn deren Gaumen ist immer noch an das blassere, bekömmlichere, weniger kernige Zucht-Grünzeug gewohnt.
Ach ja - das eigene Profil! Verleitet da der Anspruch nicht manchmal zur bemühten Arabeske, zu botanisch-kulinarischer l`art pour l`art? Vor sinnlosen Experimenten, knurrt Jean-Marie Dumaine, zum erstenmal ein wenig unwirsch, schütze ihn seine Erfahrung als Koch. Seine Frau. Und Küchenmeister Detlev Ueter, der Mann mit dem Blick für wirtschaftliche Notwendigkeiten. Ein fehlkonzipiertes Gericht, das sie mangels Nachfrage wieder von der Karte nehmen mussten - nein, daran will sich keiner der drei erinnern.

Les Fromages
Französische Käseauswahl

Leidenschaft kann sich lohnen. Ende der 90er Jahre läuft die Sinziger Wildküche immer besser. Das Motto "Natur erleben und genießen" verlangt nach der passenden Inszenierung. Gegenüber wird die Traditionsgaststätte "Zur Traube" frei. Dumaines kaufen, und investieren eineinhalb Millionen Mark. Auf fünfeckigem Grundriss entsteht ein luftiges Restaurant, angeordnet um einen fünfeckigen Innenhof, in dem Wasser in einem fünfeckigen Brunnen plätschert und auf Grauwackenterrassen Kräuter wachsen. Die Küche ist halboffen, die Kellner tragen blaue normannische Blusen und rot-weiß-karierte Halstücher, zwölf Angestellte aus sieben Nationen sind inzwischen beschäftigt. Madame Dumaine eilt mit gestärkter Haube von Gast zu Gast. Wer das Lokal zufrieden verlässt, nimmt gern noch ein Gläschen Akazienblüten-Gelee und Mispel-Mus mit, oder lässt sich von Jean-Marie sein Buch über die Wildpflanzenküche signieren. Als munteren Plauderer lädt man ihn häufig in Fernseh- und Radiosendungen, arte dreht sogar einen Film über die wilden "Geschmacksparadiese". "Dat reischt nicht", befindet Jean-Marie Dumaine. Und organisiert Kochpartys, Tafelrunden und kulinarisches Kabarett, wird Mitbegründer eines Trüffel-Biotops an der Ahr, besucht Vietnam und Äthiopien auf der Suche nach Inspiration und sprüht weiter vor Ideen und Plänen - "partout al la fois", ein fixer Hans-Dampf in allen geschäftlichen Gassen.

Les dessert:
Waldmeister Charlotte mit Erdbeeren und Veilchensorbet

Die Natur steht im Saft und viel Arbeit an in den nächsten Wochen. Vier Leute ziehen inzwischen im Auftrag der Dumaines durch Wald und Flur und Auen an der Ahr: "50 Kilo Blüten Löwenzahn für, sagen wir, Dienstagnachmittag, da ist Leerlauf in der Küche". 100 Kilo Tannenspitzen sind demnächst zu pflücken, auf dass Gelee, Essig oder dieses köstliche Pesto zum Rehcarpaccio daraus entstehe,. Die Spitzwegerichknospen sind soweit, Holunder und Akazien auch schon in Blüte. Im Juli warten Wasserkresse, Ringelblumen und Rainfarn. Waldziest und Waldkresse sind im Herbst an der Reihe, Ackersenf, Iriswurzel und Labkrautsamen - die Dumainsche Kleinproduktion verlangt mittlerweile nach ansehnlichen Rohstoffmengen.

Digestif:
Fleurs de Pommier "Vision Jean-Marie Dumaine"

Auch für die Pestwurz gibt es Hoffnung. Japaner verwenden `Petasites fragrans` als Beilage zu Sushi, hat Dumaine bei Couplan erfahren. Und inzwischen selbst zwei Varianten erkocht: Eine schwarze mit Sojasoße. Die gelbe mit Zitronensaft und karamelisiertem Zucker. "Auch Löwenzahn habe ich anfangs nur zu Spinat verarbeitet. Und nun erinnern Sie sich an den Gang mit der Lotte: Ein Püree, fritierte Blätter, das Chutney aus den Blüten und ein Karamel aus Wurzeln - so setzt man Geschmacksvisionen um. Die Pestwurz und ich - wir stehen erst am Anfang unserer gemeinsamen Geschichte." Jean-Marie Dumaine hat sich der Pestwurz angenommen. Um die Pestwurz muß einem nicht bange sein.


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