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Aufbruch an der Adria
Montenegro will zurück auf die touristische Weltkarte


Menschen am Fluss: Entspannt lehnt sich der graue Krauskopf im roten adidas-T-shirt in seinen Liegestuhl zurück, schiebt die Sonnenbrille auf die Stirn und hebt lässig seine Flasche Bier zum Gruß. Der Nachbar mit den schmuddligen Safarihosen säubert in einem verbeulten Waschzuber Fische und winkt mit einem frischgeschuppten Zander. Überall auf den Terrassen der flachen Hütten sitzen Männer und wenige Frauen, dösen, plaudern und sehen hauptsächlich der Bojana zu, wie sie breit und träge wie der Mississippi an ihnen vorbei zur Adria zieht. Die "Kalimeras", große Senknetze, hängen wie umgedrehte Schirme von den Trägerbalken, alte Kähne schaukeln am Ufer, und der Soldat im Tarnanzug im Schilf hebt warnend die Hand: Hier endet Montenegro, der Rest des Flusses gehört bereits zu Albanien.

Dragan wendet das Boot und legt an seiner Hütte an. Auf dem wackligen Steg serviert er getrocknete Feigen, dazu drei Sorten Geist: Tresterschnaps aus der Fabrik, Traubenbrand aus eigener Produktion und ein ebenfalls selbstgebranntes 65prozentiges gelbes Etwas, das sich bis zu den Zehenspitzen durchbrennt und irgendwie mit "Fichten" zu tun hat. Probieren, drängt Dragan. Vergleichen! Einen neuen Geschmack entdecken!

Was für ein lässiger Nachmittag! Klar, dass Natascha, der Reiseleiterin, ausgerechnet jetzt einfällt, warum Montenegriner Hornhäute auf dem Handrücken haben: Weil sie die Hände stets auf dem Rücken tragen. Das, sagt sie, sei montenegrinische Lebensart: Dieser Rhythmus der Gelassenheit. "Und den müssen auch unsere Gäste für sich entdecken!"

Wie passend. Denn "Montenegro entdecken!" steht gerade derzeit auf dem Plan, dem neuen "Masterplan", um genau zu sein. Den haben ein paar findige Köpfe um den deutschen Tourismus-Experten Johann-Friedrich Engel im Auftrag der Deutschen Entwicklungsgesellschaft erstellt. Er steckt die touristische Entwicklung des Landes für die nächsten zwanzig Jahre ab. Und soll so etwas wie die Tourismus-Bibel der kleinen Teilrepublik Jugoslawiens werden.

"Montenegro erleben!" und "Montenegro genießen!" sind für später vorgesehen, in sieben oder acht Jahren etwa, wenn aus den jetzt 184 000 überwiegend billigen und privat vermieteten Betten 225 000 bequemere und einträglichere geworden sind. Wenn der Straßentunnel zwischen der Hauptstadt Podgoriza und der Küste fertiggestellt ist. Und wenn die neun derzeit zum Verkauf stehenden staatlichen Hotels die erhofften investitionsfreudigen Neubesitzer mit klangvollen Namen gefunden haben. Kurz: Wenn die 200 Kilometer Adriaküste zwischen Kroatien und Albanien zu einem zweiten Mallorca für "anspruchsvolle Badegäste" geworden sind - einem Mallorca freilich, das die Fehler des Originals gekonnt vermieden hat.

Eigentlich aber geht es hier gar nicht um die Entdeckung von Neuland. Sondern um eine Wiederannäherung.
Montenegro, Montenegro - war da nicht einst was? Aber ja: Sonnenstrände, große Portionen "Serbisches Reisfleisch" und Kellner, die an Bata Ilic erinnerten: Über eine Millionen Touristen besuchten Montenegro im Jahr 1985, fast ein Drittel davon kam aus Westeuropa. Dann begann, 1990, der Krieg, der, wie Natascha meint, für die Menschen auf dem Balkan zum "dritten Weltkrieg" wurde, und wenn auch in Montenegro kein Schuss fiel: Die Wirtschaft brach ein, jugoslawische Touristen konnten die Lücken nicht füllen.

Doch jetzt drängt das Land mit Entschlossenheit zurück auf die touristische Weltkarte. Was aber wollen sie denn nun finden, die Forschungsreisenden in Sachen Urlaub - jenes Trüpplein deutscher Touristen etwa, Vorhut künftiger Neckermännerheere, das sich neugierig um das Frühstücksbüffet des Hotel "Avala" schart?
"Was fürs Auge, was fürs Gemüt, was zum Beißen und Gluckern." Sprich: Sonne und Strand, ordentliche Hotels, ein bisschen Kultur und Natur, lecker Essen und Trinken.

Nun denn: Die Sonne scheint nicht anders oder seltener als auf den Balearen. An Stränden herrscht kein Mangel, exakt 117 gibt es angeblich davon, allein der bei Ulcinj ist 13 Kilometer lang, und hat noch viel, viel Platz, ehe die für dort vorgesehenen Ferienanlagen mit 35 000 Betten errichtet sein werden. Und was die Gastronomie angeht, gilt: Sehr satt werden auf unterschiedlichem, meist ordentlichem, wenn es um Fisch geht auch hohem Niveau!
Lachend kommt die alte Sora Milosevic - "nicht verwandt" hat sie von Touristen gelernt - aus ihrer "Kafana" und präsentiert den Teller mit dem berühmten Schinken von Njegusi, der in luftigen Häusern im Wind trocknet, oder in alten, von schwarzem Fett schmierigen Räucherkammern zu einer fleischigen, mild-würzigen Köstlichkeit heranreift. Der Wein dazu, eine Mischung aus Rot- und Honigwein erinnert eher an Kopfweh-Lambrusco, viele besser passt da Schnaps. Überhaupt, finden Montenegriner, passt Traubenschnaps eigentlich immer besser: Ob vor den Kalamares, zum gebackenen Karpfen, zwischen Oktopussalat und Zahnbrasse, nach der Dorade oder schließlich zu ausgebackenen Krapfen mit Honig - ein Gläschen "Loza" - soviel Zeit muss sein!

Wäre sodann die Sache mit den Hotels: Sicher, da ist die berühmte Hotelinsel Sveti Stefan, auf der - es muss zum zehntausendsten Mal wiederholt werden - einst Sophia Loren und Sylvester Stallone nächtigten. Eine ehemalige Fischersiedlung auf einem Steinblock im Wasser, ab 1952 zum Hoteldorf umgebaut, recht malerisch gelegen, halbwegs luxuriös und in deutschen Reisekatalogen für wenig Geld zu buchen - aber Sveti Stefan ist eben nicht die Regel.

Noch müssen Entdecker an der Küste mit gewissen Unzulänglichkeiten umgehen können: Die Liste der - lässlichen - Sünden im "Hotel Albatros" in Ulcinj ist lang: Steckdosen ohne Strom, das Wassser tröpfelt, der Mischerhebel der Dusche ist abgebrochen, dem Teppichboden hätte schon vor längerer Zeit eine Grundreinigung zur Ehre gereicht - und doch spürt man an allen Ecken ebenso das Bemühen, dem Verfall entgegenzutreten: Geranien blühen in den Blumenkästen, der Balkon ist frisch getüncht, der Gärtner wieselt schon in aller Frühe durch den Park und die Kellner harren auch dann noch geduldig, wenn nur noch zwei Gäste durchprobieren, zu welchem Getränk Schnaps wohl am besten schmeckt.

Das versöhnt. Dazu das Meer, das vor dem Fenster rauscht, der Ginster, der wie gekörntes Gold die Hänge überzieht - und die alten Städte.

Cetinje, die ehemalige Residenz des Königreichs Montenegro präsentiert in ihren Museen 42 von den Türken erbeutete Kriegsfahnen, die Säbel und Orden des König Nikola, der es dank seiner neun Töchter zum "Schwiegervater Europas" brachte, sowie den Billardtisch, den der Dichter und Herrscher Njegos sich über die enge Serpentinenstraße von der Küste hatte hochschaffen lassen. - Die verwinkelten Altstädte von Budva und Ulcinj wurden beide beim großen Erdbeben 1979 bis zum Grund zerstört. Die in Budva wurde, fast zu perfekt, Stein für Stein wieder aufgebaut und beherbergt heute eine muntere Touristenkulisse aus Souvenirshops, Pizzabuden und Minimärkten. In Ulcinj dagegen wurde mit viel Beton nicht immer ganz stilsicher geflickt und neues altes Gemäuer zwischen Schutthaufen und Ruinen gestellt. "Kein Wunder", erklärt der flinkzüngige Deutschlehrer und Vorsitzender des Altstadtvereins, Ismet Karamanaga, leicht verbittert, "das Geld geht nach Budva, in Budva sitzen die großen Herrn". In Ulcinj aber rufen die Menschen von den Terrassen: "Deutsche? Na prima. Wann kommt Ihr wieder? Wir warten." In fließendem Deutsch.

Doch zurück in den Norden: In der Bucht von Kotor liegt die Insel des Heiligen Georgios, deren dunkle Zypressen einst Arnold Böcklin so tief beeindruckten, dass er nach ihnen seine "Toteninsel" schuf. Das Eiland gehörte der Stadt Kotor - sehr zum Missfallen der Einwohner des Nachbarorts Perast. Sosehr wurmte sie das fremde Kleinod, dass sie eines Tages im Jahre 1452 entschieden, sich ein eigenes Inselchen zu gönnen: Alte Schiffe wurden mit Steinen gefüllt und in Sichtweite von St. Georgios versenkt, soviele, solange, bis eine schmale Plattform für eine Kapelle entstanden war. Von 1725 bis 1730 wurde darauf die jetzige Kirche "Maria vom Fels" erbaut, mit Kuppeltürmen, einer Fassade in lokalem Barock, einer Bilderreihe von lesenden und schreibenden Propheten und Sibyllen. Gewidmet ist sie der Schutzpatronin der Seeleute, und diese pilgerten auch durch die Jahrhunderte hierher. Über 2000 silberne Votivtäfelchen erzählen von heftigen Stürmen, brandigen Beinen, brennenden Schiffen - und jeweils glücklichen Ausgängen. Die Silberschmiede von Perast lebten nicht schlecht.

Fehlt unserem Entdecker schließlich nur noch die Natur, mit dem tief eingeschnittenen Fjord von Kotor, den türkisen Buchten hinter jeder zweiten Kurve, den Reihern und Kormoranen am Skutari-See. Abwechslungsreich ist das Land, wenig verbaut, wenig zerstört, sieht man von wilden Müllkippen ab.
Und manchmal, manchmal ist man sogar geneigt, das so sorgsam gehütete Prädikat "Traumblick" zu vergeben: Tief unten legt der Fluss, der keiner ist, eine mächtige Schleife um einen karg bewaldeten Berg. Von den Seiten schieben sich graue Felskegel ins Wasser, Seerosenfelder verkrauten die Ausbuchtungen dazwischen, lediglich eine schwarzglänzende Rinne bleibt frei. Im Abendlicht spiegeln sich in diesen Windungen des Skutarisees die Kämme der Berge, und dahinter, in die Tiefe gestaffelt, verschwimmen die Ketten blassblauer Gipfel im Dunst, am Horizont, im nachtblauen Himmel.

Hoch oben aber, auf der Terrasse des kleinen feinen Hotels, steht der Entdecker und sinniert: Ob er ihnen wohl gelingen wird, der Spagat? Ob der Tourismus in zehn, zwanzig Jahren dem Land tatsächlich soviel Geld eingebracht haben wird, wie sie erhoffen - und trotzdem dieses Gesamtkunstwerk der Natur unverändert erhalten sein wird? Und, gesetzt den Fall, dass: Ob sie dann immer noch mit der gleichen Gelassenheit am Nachmittag Bier trinken und sich Hornhäute auf den Handrücken holen werden, die Menschen an der Bojana?

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