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Antonio Brilli "Das rasende Leben - Die Anfänge des Reisens mit dem Automobil"

Als das Jahrhundert noch jung war - das letzte, das ja doch immer noch viel mehr unseres ist als war - , entwuchs auch sein größter künftiger Mythos allmählich den Kinderschuhen: Das Automobil, das "Vehikel für den Barbaren in uns", nahm zu an Verbreitung, technischer Reife und Bekanntheitsgrad.

Es war die Zeit, als die Fahrer noch lange Ledermäntel und dunkle Brillen trugen und detaillierte Logbücher führten. Als die Damen dauernd Riechsalz brauchten, Fahrbenzin literweise in Apotheken zu haben war und die Autos bei jeder Ausfahrt Dutzende ihrere Bestandteile am Weg zurückließen. Das Zeitalter von Namen, die heute noch wie Gedichte klingen: Winton Flyer, Panhard-Levassor, Delaunay-Belleville.

Attilio Brilli, Universitätsprofessor aus Siena und einer der größten Kenner der Reiseliteratur, spürt diesen ersten Jahrzehnten des Automobils nach. Seine Zeugen sind die Dichter, und sie tragen illustre Namen: D'Annunzio, Pirandello, Faulkner, Fitzgerald, Sinclair Lewis. Die Liste der Schriftsteller, die sich mit dem Auto beschäftigten, liest sich wie ein "Who's who" der Literatur - der italienischen und amerikanischen freilich, was bei einem italienischen Professor für Amerikanistik nicht unbedingt verwundert. An deutschen Stimmen kommt nur Otto Julius Bierbaum zu Wort, mit seinem 1903 erschienenen Bericht "Eine empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrento" - ein Mangel, den deutsche Automobilenthusiasten möglicherweise noch hinnehmen. Dass aber außer seinem "Adler Phaiton" deutsche Autos weiter keine Rolle spielen, dürfte sie doch einigermaßen verbittern.

Natürlich war es vor allem die Geschwindigkeit, die an den neuen Maschinen zunächst faszinierte: Das Auto als Synonym für Moderne und Kühnheit. Daneben aber gab es die Gruppe jener Reisenden, die hofften, das neue Gefährt würde ihnen etwas von der Faszination des Reisens in einer Kutsche zurückbringen. Hinter den Horizonten ging es plötzlich weiter, unabhängig von den eingefahrenen Strecken der Eisenbahn, auf ganz neuen, selbstgewählten Wegen. Die Lust am Entdecken und Umherschweifen ließ sich auf noch nie dagewesene Weise befriedigen.

Kam dazu, dass die Reisenden mit ganz neuen Formen der Wahrnehmung zurechtkommen mussten, mit eigenartigen visuellen Effekten, mit einer Landschaft, die hinter der Scheibe nur so vorbeischnurrte. Eine Sprache war zu finden für bisher unbekannte Vorgänge: Technische Pannen, Unfälle, Kilometerfresserei. Und was es nicht alles brauchte an neuem Zubehör für so eine Reise im Automobil!

All diesen Erscheinungen fährt Antonio Brilli hinterher, spritzig, geschwind, gescheit. Gern folgt ihm der Leser deshalb auch, wenn er Abstecher in spätere Zeiten und benachbarte Gegenden unternimmt: Wie das Auto zum Werkzeug der erotischen Verführung wurde. Zum Kitt der amerikanischen Gesellschaft und zugleich zum Instrument der Rebellion gegen sie. Zum Symbol der Zugehörigkeit zu einer Klasse - Mit einem Ford T kommt man überall hin, nur nicht in die bessere Gesellschaft -, zum mobilen Heim, und zum Mittel des Selbstmords nicht zuletzt.

Bewegende und erheiternde Zeugnisse präsentiert der Autor bei seinen Zwischenstopps. Momente aus einer Zeit, als das Auto noch bestauntes Individuum war, nicht anonyme Staumasse. Und als man noch aufrechten Sinnes davon ausgehen konnte: Bald läuft niemand mehr. Nicht: Bald geht gar nichts mehr.

Antonio Brilli "Das rasende Leben - Die Anfänge des Reisens mit dem Automobil", Wagenbach 1999


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