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Peter Stark „Zwischen Leben und Tod“

Dies ist wahrscheinlich das fesselndste und aufwühlendste Sachbuch der Saison - ein populärwissenschaftlicher Thriller, der an unsere innersten Ängste rührt. Denn es geht um den Tod. Um den Tod, wie er vornehmlich Abenteurer und Extremsportler ereilt: Am Berg, im Meer, auf dem Eis. Peter Stark, der Autor, weiß, worüber er schreibt. Er ist selbst einer von denen, die auf Skiern, im Kajak oder am Seil immer wieder den Tod herausfordern. Dabei geht es ihm und den anderen nicht nur um das Naturerlebnis oder das Austesten der eigenen Fähigkeiten. Sondern ebensosehr um den Versuch, "die Grenze zwischen dem Selbst und etwas Größerem aufzuheben" - und manchmal geschieht das für immer. Stark hat Gespräche mit zahlreichen Männern und Frauen geführt, die von Lawinen verschüttet wurden, von Felsen stürzten, verdurstend durch die Wüste irrten. Er hat Spezialisten für Notfallbehandlung interviewt und sich in medizinischen Datenbanken kundig gemacht. Dieses breite Wissen hat er zu elf romanhaften Kapiteln verarbeitet, in denen Menschen in unterschiedlichen geographischen und klimatischen Situationen an ihre Grenzen geraten. Und darüberhinaus. Ob Matt, der Kajakfahrer von den Fluten des Jangtse verschlungen wird, Ariadne kurz unter dem Gipfel des Annapurna, gefoltert von der Höhenkrankheit, mit einer "Phantomgefährtin" zu reden beginnt, oder Mary in der australischen See, von einer Würfelqualle vergiftet, in unsäglichem Schmerz verbrennt - Stark versteht es, die physiologischen Vorgänge wie die psychologischen Dimensionen des Geschehens - Panik, Verzweiflung, Gleichgültigkeit - gleichermaßen plastisch herauszuarbeiten. Medizinisch präzise und doch höchst verständlich schildert er, was das heißt: Das Lebenslicht verlöscht. Wie das Herz beim zu schnellen Auftauchen aus der Tiefe bloß noch blutigen Schaum ins Gehirn pumpt. Warum die Vorgänge im Körper bei einem Hitzschlag mit der Kernschmelze in einem Atomkraftwerk vergleichbar sind. Wie im letzten Stadium des Skorbut die Beine anschwellen, das Zahnfleisch sich schwarz färbt und die Zähne mit bloßer Hand ausgezogen werden können. Welche Visionen den Verdurstenden quälen. Und wie bei einer Malaria tropica die Blutkörperchen im Gehirn zusammenklumpen. Es sind höchst unterschiedliche Geschichten, die Stark da erzählt. Manche gehen gut aus, die meisten enden tragisch - wie im richtigen Leben. Aber es ist kein leichter Stoff. Unwillkürlich hält der Leser selbst den Atem an, wenn dem Kajakfahrer in den Strudeln am Grunde des Stroms die Luft ausgeht. Er fiebert mit, wenn die Radsportlerin sich in glühender Hitze die Serpentinen hochquält und zu stöhnen beginnt wie ein Tier. Adrenalin schießt ihm ins Blut und auch seine Hirnströme jagen in den Betabereich, wenn der Extremkletterer abstürzt - und nicht der berühmte "Film" in ihm abläuft, sondern beim Aufprall die Milz platzt. Und schließlich die Aorta reißt. Dieses Buch bietet, seinem Gegenstand angemessen, extreme Leseerfahrung. Was bleibt, wenn man den Band nach 350 Seiten atemlos aus der Hand legt, ist Respekt. Respekt vor dem menschlichen Organismus, diesem so überaus komplizierten, überaus verletzlichen Gebilde: "How fragile we are". Zerbrechlich ist er, der Mensch. Peter Stark „Zwischen Leben und Tod“ Rowohlt 2002

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