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Rezensionen unter Buch & Beifall - Gut gefunden
Hans-Christian Kirsch "Mit Haut und Haar"

Manche Bücher treffen einen Leser genau zur richtigen Zeit. Und dann mitten ins Herz. Solche Bücher erhalten auf seiner persönlichen lebenslangen Bestenliste einen Platz ganz weit oben - unabhängig von ihrem literarischen Rang.

Irgendwann Mitte der 60er Jahre stieß ich in dem Paket mit Billigbüchern des Mail Order Kaiser Verlags - einer der wenigen Anflüge von Luxus, den unsere Familie sich leistete -, auf einen "unerbittlichen Roman unter Jugendlichen": 447 gebundene Seiten mit Lesebändchen für 15.80 Neupreis. Jetzt 8 Mark.

Hans Christian Kirschs "Mit Haut und Haar" war 1961 im List-Verlag erschienen. 26 war der Autor damals, verriet der Klappentext, der seine sonstige Ratlosigkeit hinter viel gedrechseltem Schwulst eher offenbarte als verbarg: "Unmittelbar, leidenschaftlich und aufsässig erzählt Kirsch über eine Schar europäischer 'Beats', die nicht aus und ein wissen, und vor lauter Ausgeliefertsein an die geistige Entleertheit ihrer Länder, an ihre individuellen und kollektiven Einsamkeiten außer sich geraten: Da sie keine Ordnungen finden, geben sie sich den äußersten Unordnungen anheim."

Schon die ersten Seiten waren wie eine Offenbarung: Da kam einer, gerade mal doppelt so alt wie ich und öffnete gleich alle Fenster auf einmal: Es gibt ein Leben jenseits von Edgar-Wallace-Filmen, Tanzkurs und "Was bin ich?": Es gibt, da draußen, Europa tatsächlich. Und man kann hin.

Kirsch erzählt eine Geschichte der 50er Jahre, die Geschichte von Jugendlichen, die in zerbombten Städten aufwuchsen, Kartoffeln klauten und sich mit ihren Nazi-Vätern stritten. Einige sind aus der DDR geflüchtet, einer wurde als Kind einer Jüdin durch ganz Europa gehetzt, gemeinsam aber ist ihnen jetzt ein ungeheurer Hunger nach Erfahrungen. "Lebe den Augenblick" ist ihr Credo.

Die einen tun dies im Kampf gegen korporierte Studenten an der Universität, andere entdecken den Jazz für sich. Harry beginnt zu schreiben und wird ein Star, Frank geht in die Wirtschaft und macht großes Geld - Yuppies gab es damals schon. Alle aber sind sie, natürlich, auf der Suche nach Liebe. Und alle brechen sie immer wieder auf: Trampend, auf Lastwagen, im Zug entdecken sie Schweden, Schottland, Frankreich und Spanien. Hemingway und Tom Wolfe sind ihre Götter, und ich erfuhr staunend, dass beides zusammengeht: Bücher zu verschlingen - und doch kein Stubenhocker zu sein. Bilder zu lieben - und sich gleichzeitig als Abenteurer zu verstehen.

Die Jazzkeller von Paris, die Bars von Tarragona, der Frankfurter Hauptbahnhof und die Uni von Santander wurden zu meiner virtuellen Heimat. Soviel Bereitschaft, sich auf neue Menschen und andere Städte, einzulassen, sprach aus dem Buch, eine solche Unbedingtheit, das zu tun, was man für richtig hielt - auch wenn man noch nicht wusste, was es sein könnte. Ich kannte das. Libudas Bogenlampe zum 2:1 über Liverpool konnte nicht alles gewesen sein.

Kurz darauf fuhr ich zum erstenmal nach Spanien. Und siehe da: Es war alles so, wie der Meister es beschrieben hatte: Die Ferias, der Staub, der mit Rotwein runterzuspülen war, selbst die "Männer mit Gesichtern wie Messern" standen in Bars und gaben einen aus. Franco herrschte und schien bis ans Ende aller Tage zu herrschen. Doch Franco interessierte mich noch nicht. Viel wichtiger war: Die Bibel hatte recht behalten.

Schon bald aber fiel mir Kerouaks "Unterwegs" in die Hände, ich entdeckte Hubert Selby und Robert Lowell, und stellte fest, dass "Mit Haut und Haar" daneben irgendwie bieder klang, und die Unerbittlichkeit seiner Helden, verglichen mit der der Amerikaner, doch ein wenig nach heimlichen Renteneinzahlungen roch. "Beat" war anders, erfuhr ich. "Beat" ging ans Eingemachte.

Und heute? Eine gewisse Rührung stellt sich beim Wiederlesen ein: Da haben sich zwei ausprobiert. Ein Autor - und sein Leser. Da steckt viel Kitsch und Wortgeklingel drin, da wuchert Größenwahn und prangt Bombast. Und trotzdem vermittelt sich immer noch unmittelbar etwas von dem Zauber von damals: Dieses Buch war eine Entdeckung, die der der ersten Liebe in nichts nachstand. Es war ein Versprechen, ein Wechsel auf die Zukunft: Die Welt ist ungeheuer aufregend. Man kann sie entdecken. Und du hast das alles noch vor dir.

Hans-Christian Kirsch "Mit Haut und Haar" Paul List 1961

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